1. Startseite
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. Streitbarer Geist und großer Redner

Walter Jens ist tot / Er prägte die Streitkultur der Bundesrepublik Streitbarer Geist und großer Redner

11.06.2013, 01:24

Verstummt war der wortgewaltige "Redner der Republik" schon lange. Seine Demenz-Erkrankung hatte Walter Jens in einer ganz eigenen Welt gefangen. Mit 90 Jahren ist er nun gestorben.

Tübingen (dpa) l Walter Jens, einer der größten Intellektuellen der deutschen Nachkriegsgeschichte, war durch seine Demenz-Erkrankung noch zu Lebzeiten verstummt. Am Sonntagabend ist der Tübinger Professor und langjährige Präsident der Berliner Akademie der Künste im Alter von 90 Jahren gestorben.

Immer waren es die Künste, für die sich der Literaturliebhaber und -wissenschaftler einsetzte. Viele sahen in Walter Jens eine "moralische Instanz" und einen engagierten Demokraten. Der sprachmächtige Aufklärer und Christ brillierte mit einem Bildungskanon des Universalwissens, der andere staunen ließ - vom Neuen Testament und altgriechischen Tragödien über Philosophie bis zur Mondlandung oder dem von ihm so geliebten Fußball.

1947 begann der Hamburger Bankierssohn mit dem Schreiben - im Laufe der Jahrzehnte entstanden Romane, Dramen, Hörspiele und Essays. 1950 kam er als Dozent an die Universität Tübingen, wo er 38 Jahre lang lehrte und den bislang bundesweit einzigen Lehrstuhl für Allgemeine Rhetorik aufbaute. 1950 stieß er auch zu der legendären Schriftstellervereinigung "Gruppe 47". Im selben Jahr gelang ihm der Durchbruch als Erzähler mit dem utopischen Roman "Nein. Die Welt der Angeklagten". Viele Neuauflagen erlebte sein Standardwerk "Statt einer Literaturgeschichte" von 1957.

Vor allem aber prägte er wie nur wenige als gesellschaftspolitisch engagierter Moralist und Pazifist das geistige Nachkriegsdeutschland. Immer war Jens aneckend oder anregend, beides war ihm recht. Er meldete sich zu Wort, wo immer er das Recht mit Füßen getreten sah. Gemeinsam mit seiner Frau Inge wurde er in den 1980er Jahren zu einer Galionsfigur der Friedensbewegung. "Intellektuelle müssen sich einmischen und warnen", war sein Glaubensgrundsatz.

Im Mai 1989 wählte die Berliner Akademie der Künste Walter Jens zu ihrem Präsidenten. Nach der deutschen Wiedervereinigung betrieb er nach anfänglicher Skepsis den Zusammenschluss mit der Akademie der Künste der DDR, was zu vielfältigen Protesten und Austritten prominenter Mitglieder führte.

Mit Hilfe seiner Frau Inge Jens, der Herausgeberin der Thomas-Mann-Tagebücher, kam Jens im hohen Alter von 80 Jahren noch zu unverhofften Bestseller-Ehren. Die gemeinsam verfasste Biografie "Frau Thomas Mann - Das Leben der Katharina Pringsheim" verkaufte sich besser als so manche Thomas-Mann-Biografie.

2006 wurden die Anzeichen der Demenz-Erkrankung unübersehbar. Langsam aber unaufhaltsam schritt die geistige Umnachtung voran. Es war genau ein solches Leben, vor dem er immer Angst hatte.