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Premiere für "Kaspar Hauser" in Quedlinburg Verstörend und mitreißend

20.09.2010, 04:17

Die Geschichte des Kaspar Hauser hat viele Facetten. Eine geradezu stürmisch umjubelte Sicht brachte am Freitag im leider nur mäßig besetzten Uraufführungshaus in Quedlinburg Halberstadts Ballettmeister Jaroslaw Jurasz als ausdrucksstarker Choreograf und vor allem auch als Solist in die lange Werkgeschichte ein.

Von Hans Walter

Quedlinburg. Nach der eigens komponierten Musik des Griechen Irineos Triandafillou schuf Jurasz sein verstörend-mitreißendes Kammerballett "Kaspar Hauser".

Intensiver Applaus nach einem zweistündigen Uraufführungserlebnis für ihn, seine kleine elfköpfige Kompagnie, für den choreografischen Assistenten und Solisten Daniel James Butler, für den Komponisten Irineos Triandafillou, für die Ausstatterin Kordula Kirchmair-Stövesand, für die Dramaturgin Susanne Range und den Videokünstler Frank Möller!

Damit ist die großartige Ensembleleistung schon angedeutet, aus der Jurasz als Primus inter pares noch herausragte: Er prägte zwei Stunden ununterbrochen das Geschehen. Seine tänzerische Bühnenpräsenz mit expressiven Sprüngen und eindringlichen Pas de deux war hinreißend! (In der Zweitbesetzung meistert Stephan Müller die Rolle des Kaspar Hauser.)

Jurasz erzählte eine mögliche Variante der Hauser-Biografie. Damit reihte er sich ein in die lange Traditionsreihe seiner "literarischen" Ballette für das Nordharzer Städtebundtheater, durch wichtige Stationen wie Othello und Alexis Sorbas markiert, letzteres im Vorjahr bereits mit der Musik von Irineos Triandafillou produziert.

Im November 2010 legt Jurasz mit dem Ballett "Romeo und Julia" eine weitere Ausdeutung einer literarischen Vorlage noch nach.

In "Kaspar Hauser" spüren Komponist und Choreograf gemeinsam dem Schicksal des am Pfingstmontag 1828 in Nürnberg aufgefundenen badischen Findelkindes Kaspar Hauser nach. Ein Menschenschicksal. Er ist 16 Jahre alt, ist sprach- und geistesschwach. Er berichtet – und das sind die wenigen authentischen Worte in der Handlung – dass er ein Reiter wie sein Vater werden wolle.

Die Schönheit und der Duft der Rosen

Sein bisheriges Leben läuft vor den Zuschauern ab, seine Ahnung von der liebenden, ihn lebenslang als Vision begleitenden Mutter. Katia Alves de Alencar tanzt sie mit klassischem Schrittmaterial auf Spitze.

Da sind seine Geburt, sein Aufwachsen im Kerker bei Wasser und Brot, sein Spielgefährte, ein kleines Holzpferd, der Wärter (eine schöne tänzerische Leistung von Jaume Bonnin), die schwarzen Gestalten, die lebenslänglich immer wieder eingreifen. Der reale Gymnasialprofessor Georg Friedrich Daumer wird im Ballett zum Lehrer, der Kaspar Lesen und Schreiben, Malen und Zeichnen beibringt. Er lernt rasch, doch die schwarzen Gestalten greifen wieder und wieder zerstörerisch in sein Tun ein. Der Lehrer, getanzt von Marcelo Dono, hat wenig Einfluss, die Schatten zu bannen.

Kaspar entdeckt – sein Leben im Tagebuch reflektierend – sein Ich, seine Persönlichkeit. Der Baron – mitreißend interpretiert von Daniel James Butler – bestimmt, ganz in flammendes Rot wie die Liebe, das Blut und das Feuer gekleidet, die Zuneigung des Jungen. Er bringt Kaspar auf sein Schloss, vermittelt ihm die Schönheit und den Duft der Rosen, er lässt Werben, Erhören und Liebe zu.

Drei Szenen sind es vor allem, die unter die Haut gehen: Die Erkundung der Persönlichkeit Kaspars mit einem Handspiegel, ganz ohne Musik. Die Entscheidung Kaspars für ihn, in einem expressiven Pas de deux voller Innigkeit, in dem der Baron sein Rüstungsrot, seinen roten Frack, aufgibt und entspannte Körperlichkeit zeigt.

Und die Rückverwandlung in ein steifes, gesellschaftliches Wesen im Frack und die Ablehnung Kaspars, als der die höfische Konvention des adligen Kreises im Tanz durchbricht und wirbelnde plebejische Ursprünglichkeit und aufrichtiges Gefühl zeigt.

Zum Schluss wird er mit seinen schwarzen Gestalten des Hofes zum Mörder an Kaspar. "Ich will sterben" sind dessen letzte Worte ...

Anders als in der realen Biografie, in der sich Kaspar Hauser in Lila von Stichaner, die Tochter des Regierungspräsidenten verliebt, zeigt Jaroslaw Jurasz eine andere Liebe.

Sie ist quälend und schmerzhaft, doch nicht weniger ehrlich und aufrichtig. Die einzige rote Rose des Barons bedeutet ihm alles, wird ihm zur ganzen Welt, zum Universum! Der Baron hält dieser uneigennützigen, von Konventionen freien Liebe nicht stand.

Kaspars Freude und seine Verzweiflung

Musikalisch hat Irineos Triandafillou ein rhapsodisch fließendes, ausdrucksstarkes Werk geschaffen. Der Tanz kommt mit Walzer-, Ländler- und Gopak-inspirierten Formen zu seinem Recht, daneben sorgen Klangballungen und Tonschichtungen für dramatische Klänge. Eine kunstvolle Fuge ist in die Komposition eingewoben, zeigt Kaspars Freude wie Verzweiflung, überlagert sich choreografisch mit dem Bild der Mutter.

Am Ende bleibt das flammend rote Initial K als einprägsames Zeichen im wunderschön sparsamen Bühnenbild der Ausstatterin Kordula Kirchmair-Stövesand stehen. Das Zeichen steht für Kaspar wie für den Baron in Rot. Und für ihre tragische Liebe. Es war ein großer Ballettabend! Nächste Vorstellungen: 24. September um 19.30 Uhr in der Kammerbühne Halberstadt und am 3. Oktober um 15 Uhr im Großen Haus Quedlinburg.