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Genetik Archäologen zum Flüchtlingsthema: "Wir sind alle Afrikaner"

Die Flüchtlingsdebatte hat auch die Archäologen auf den Plan gerufen. Sie überblicken nicht nur ein paar, sondern zwei Millionen Jahre Migration. Dabei kommen sie zu erstaunlichen Schlussfolgerungen.

Von Dorothea Hülsmeier, dpa 01.08.2017, 14:24

Mettmann (dpa) - Im Spätsommer 2015 öffnete Deutschland die Grenze für Flüchtlinge. Mehr als eine Million kamen - viele aus Syrien oder Afghanistan. Angesichts der aufgeheizten Flüchtlingsdebatte und Diskussionen um "Obergrenzen" weisen die Archäologen darauf hin, dass auch Europäer Ausländer sind.

Alle Europäer haben einen Jahrtausende bis Millionen Jahre alten "Migrationshintergrund". So ist eigentlich jeder Deutsche auch ein bisschen Türke, Iraker, Iraner oder Russe - und Afrikaner sowieso. Jeder trägt eine Mischung aus drei genetischen Bestandteilen in sich: die Gene einstiger einheimischer Jäger und Sammler, früherer Bauern aus dem Gebiet des heutigen Anatoliens und Nahen Ostens sowie der Menschen aus östlichen Steppengebieten. Das macht die bis November laufende Ausstellung "Zwei Millionen Jahre Migration" im Neanderthal-Museum in Mettmann bei Düsseldorf deutlich.

"Die Deutschen, die hier gewachsen sind, gibt es genauso wenig wie die deutsche Kartoffel", sagt die stellvertretende Leiterin Bärbel Auffermann. Und: "Gerade in der Offenheit für neuen Lebensräume lag in der Menschheitsgeschichte auch die große Chance."

Zusammen mit der Universität Köln, dem Max-Planck-Institut für Menschheitsgeschichte in Jena und der Heidelberger Akademie der Wissenschaften hat das Neanderthal-Museum aktuelle Forschungsergebnisse über Ur- und Steinzeitmenschen in der Ausstellung verarbeitet. Die Archäologen wollen damit zeigen, dass Migration ein natürlicher Bestandteil des Menschseins ist und kein neues Phänomen.

So wird nebenbei auch die übliche Unterscheidung zwischen Menschen mit oder ohne "Migrationshintergrund" in Deutschland angezweifelt. "Eigentlich haben wir doch alle Migrationshintergrund", sagt Auffermann. "Wir sind alle Afrikaner."

Der menschliche Vorfahr "Homo erectus" wanderte vor rund 1,8 Millionen Jahren aus Afrika nach Europa ein. Er war sozusagen der erste Migrant, wenn auch nicht zielgerichtet, sondern eher unwillkürlich der Jagdbeute folgend.

Der Weg aus Afrika führte auch den nachfolgenden anatomisch modernen Menschen, den man auch Homo sapiens nennt, nach Europa - übrigens über die Balkanroute. Er traf den Neandertaler, der sich in Europa aus dem aus Afrika eingewanderten Homo erectus entwickelt hatte. Während der Neandertaler vor etwa 40 000 Jahren ausstarb, überlebte der Homo sapiens mit Mühe und Not.

"Wir, also der Homo sapiens, hätten es aber auch manchmal fast nicht geschafft", sagt die Archäologin und Kuratorin Melanie Wunsch vom Sonderforschungsbereich 806 "Our way to Europe" der Uni Köln. Sie erforscht dort mit rund 70 anderen Wissenschaftlern die Ausbreitung des Menschen von Afrika nach Europa.

Auch wenn der Neandertaler ausstarb - ein bisschen von ihm ist in jedem von uns heute erhalten. Denn der Neandertaler und der anatomisch moderne Mensch zeugten gemeinsam Kinder. "Wir haben ein bis vier Prozent Erbgut des Neandertalers in uns", sagt Auffermann.

Auch mit der Hautfarbe ist es so eine Sache. Die helle Hautfarbe hat sich erst vor etwa 4500 Jahren entwickelt, fanden Paläogenetiker heraus. "Vorher waren alle eher dunkelhäutig", sagt Auffermann.

Wie aber kommt es zu dem Dreier-Genmix in uns? Auch das hat mit Migration zu tun. Vor rund 7500 Jahren kamen frühe Bauern aus dem Vorderen Orient nach Mitteleuropa und trafen auf die einheimischen Menschen, die als Jäger und Sammler lebten. "Sie mischten sich miteinander", sagt Wunsch. Die neuen Kulturen hatten viele Neuerungen im Gepäck: Haus- und Ackerbau, Viehzucht und später die Metallverarbeitung.

Vor rund 4500 Jahren gab es dann mit der Schnurkeramik- und Glockenbecherkultur bereits multikulturelle Gesellschaften, die ihre speziellen Gefäße benutzten und die Toten auf ihre Weise bestatteten. Die Schnurkeramiker aber waren zu 75 Prozent genetisch identisch mit den mobilen Viehzüchtern aus den südrussischen Steppengebieten. "Hier haben wir genetische Belege dafür, dass es eine massive Einwanderung aus den östlichen Gebieten in Richtung Westen gegeben hat", sagt Wunsch.

Für Archäologen, die Jahrtausende überblicken und nicht nur ein paar Jahre, ist kulturelle Identität nie statisch. "Je weiter wir zurückgehen, desto mehr sieht man, dass es immer wieder Vermischungen von verschiedensten Menschen aus unterschiedlichen Regionen mit unterschiedlichen kulturellen Hintergründen gegeben hat", sagt Wunsch. Auffermann blickt nach vorn und sagt: "Deutschland ist morgen ein anderes als heute."

Info zur Ausstellung

Projekt "Zwei Millionen Jahre Migration"