1. Startseite
  2. >
  3. Leben
  4. >
  5. College oder Kindergarten? US-Unis auf Kuschelkurs

College oder Kindergarten? US-Unis auf Kuschelkurs

An vielen Hochschulen in den USA schleicht sich ein neuer Umgang ein: Wo früher lebhaft gestritten wurde, schweigen nun manche Professoren lieber bei bestimmten Themen - aus Angst vor Studentenbeschwerden.

Von Andrea Barthélémy, dpa 24.10.2015, 15:05

Washington (dpa) - Streitbare Redner werden von Studenten ausgeladen, unbequeme Bücher von ihnen auf eine Art Warn-Index gesetzt und viele Comedians machen um amerikanische Hochschulen mittlerweile einen Bogen. Grund: Ihre Gags werden dort als zu grob empfunden.

An vielen Colleges der USA ist von der grenzenlosen Freiheit des menschlichen Geistes, wie sie einst Präsident Thomas Jefferson beschwor, nur noch wenig zu spüren. Manchmal scheint die Stimmung eher wie im Kindergarten.

Klassiker wie F. Scott Fitzgeralds Der große Gatsby, Ovids Metamorphosen oder Virginia Woolfs Mrs. Dalloway werden mit Warnhinweisen versehen, weil empfindsame Studenten von Schilderungen körperlicher Gewalt, Sex oder Suizid-Plänen verletzt werden könnten. Auch Lee Harpers Wer die Nachtigall stört ist manchen zu heftig.

Viele Hochschullehrer beklagen mittlerweile ein Klima geistiger Enge. Ich bin ein liberaler Professor und meine liberalen Studenten machen mir Angst, bekannte ein anonymer Professor jüngst auf dem Portal Vox. Der Text, in dem der Professor zugab, potenziell kritische Themen lieber vorauseilend aus dem Lehrprogramm zu bannen, wurde rasch rund 200 000 mal bei Facebook geteilt.

Es sind vor allem liberale Studenten, die Beschwerden über sogenannte Mikroaggressionen absetzen - also bewusste oder unbewusste Äußerungen über Hautfarbe, Geschlecht, Sex oder Religion, die der Empfänger als übergriffig empfindet. Im Rahmen einer weit gefassten Political Correctness sehen sie viele Ansatzpunkte für Kritik - und vermischt mit der seit längerem geführten Diskussion über sexuelle Übergriffe an Hochschulen ergibt das einen sensiblen Mix.

Die Verhätschelung der amerikanischen Seele, betitelte das Magazin The Atlantic jüngst eine Story. Auf dem Foto: ein Zweijähriger im College-Pullover, der unbedarft auf einem Laptop tippt. Sowohl für die intellektuelle Bildung als auch für die psychische Gesundheit der jungen Generation sei ein solches Wohlfühl-Postulat verhängnisvoll, schreiben der Erziehungswissenschaftler Greg Lukianoff und der Sozialpsychologe Jonathan Haidt von der New York University.

Auch Präsident Barack Obama griff das Bild vor Studenten in Iowa jetzt auf: Ich sehe das nicht so, dass ein Student, der ans College kommt, dort verhätschelt und vor anderslautenden Meinungen geschützt werden muss. Studenten sollten in der Lage sein, verschiedene Meinungen auszuhalten und zu diskutieren. Man sollte sie nicht zum Schweigen bringen, indem man sagt: Du darfst nicht kommen, weil ich zu sensibel bin, deine Meinung anzuhören. Das ist nicht die Art und Weise, auf die wir etwas lernen.

Jeannie Suk, eine renommierte Harvard-Juraprofessorin, berichtete im New Yorker von der Schwierigkeit, in Zeiten der Trigger Warnings (Warnhinweise) Kurse über Sexualstrafrecht abzuhalten. Vorwurf von Studenten: Details über Vergewaltigungen könnten Traumata hochkommen lassen. Suk ratlos: Stellen Sie sich einen Medizinstudenten vor, der Chirurg werden will, aber Angst davor hat, dass ihn der Anblick von Blut stressen könnte. Was soll man als Lehrer da tun?

Auch Komiker, traditionell gern an US-Hochschulen zu Gast, winken mittlerweile ab. Comedian Jerry Seinfeld (Seinfeld) erzählte im Radio, Kollegen würden warnen: Geh nicht in die Nähe von Colleges - die sind dort zu politisch korrekt. Auch der scharfzüngige Late-Night-Talker Bill Maher wurde von Studenten bereits ausgeladen.

Gründe für das Schwinden einer universitären Streitkultur sehen Kritiker zum einen in den Überbehütungstendenzen, mit denen viele Eltern in den USA ihren Nachwuchs großziehen. Zum anderen in der Beschwerde-Flut, die mancherorts aus der wichtigen Emanzipation benachteiligter Randgruppen erwachsen ist.

Auch das Kräfteverhältnis an den Hochschulen hat sich verschoben: Studenten, die für Studienplätze immense Summen zahlen, werden immer mehr zu Konsumenten - mit entsprechenden Erwartungshaltungen. Gleichzeitig sinkt die Zahl der Lehrkräfte mit fester Professur.

Nur noch ein Viertel der Dozenten an US-Hochschulen ist heute unbefristet angestellt. Allen anderen können Studentenbeschwerden schnell zum Karriereverhängnis werden. Man sollte nicht gegen Studenten wettern, sondern vielmehr gegen das Hochschulsystem, betont ein weiterer anonymer Professor auf Vox.

Meine Kollegen, die sich von ihren Studenten den Lehrplan diktieren lassen, sind Feiglinge, hält Koritha Mitchell, Englisch-Professorin an der Ohio State University in der Debatte auf Vox dagegen. Sie habe nicht den Luxus, einfach den Lehrstoff zu verändern, damit einige sich wohler fühlten: Denn ich bin schwarz und eine Frau. Bereits meine Anwesenheit bereitet manchen Studenten Unwohlsein. Ich entspreche nicht ihrem Expertenbild.

Studentenbeschwerden darüber, dass in der Reihe englischer Lektüren angeblich zu viele Werke schwarzer Autoren zu finden seien, nimmt Mitchell deshalb gern zum Anlass, zu diskutieren. Aber sie sagt auch: Ich kann meine Meinung sagen, weil ich eine Festanstellung habe.

Anomymer Professor auf Vox

Koritha Mitchells Homepage

Statement Koritha Mitchell

Zahlen der American Association of University Professors

Obama zu verhätschelten Studenten

Artikel in The Atlantic

Artikel in The New Yorker zu Rape Law