Psychologie im Alltag Widersprüche zulassen – so stärkt das die emotionale Balance
Was passiert, wenn wir Widersprüche in uns selbst nicht unterdrücken, sondern genau hinschauen? Einblicke, warum und wie wir davon profitieren können.

Weinheim/Berlin - Oft haben wir das Gefühl, uns zu allem sofort irgendwie verhalten zu müssen, oder es stellt sich von ganz allein ein Impuls ein - das ist gut, das ist schlecht, der hat recht, die hat unrecht und so weiter.
Aber das kann man häufig gar nicht so genau wissen - und außerdem ist es auch nicht unbedingt gut für uns. Warum wir zwiespältige Gefühle und Gedanken zulassen sollten, erklärt die Berliner Psychotherapeutin Nesibe Kahraman im Magazin „Psychologie Heute“ (aktuelle Ausgabe 11/2025).
„Wenn wir aushalten können, dass andere Menschen Dinge anders sehen als wir oder dass bestimmte Realitäten anders sind, als wir uns das vorgestellt haben, können wir uns emotional besser regulieren“, so die Autorin des Buches „Alles, was dazwischenliegt. Von der Kunst, innere Widersprüche und Mehrdeutigkeit auszuhalten“.
Sie nennt ein Beispiel: In der Familie gibt es eine Trennung. Sollte man sich da direkt auf eine Seite schlagen? Nein, erst mal nur hinschauen: „Wie wäre es, wenn man nicht sofort eine Meinung hat“, so Kahraman, „sondern sich der Konflikt erst mal entwickeln darf?“.
Dazu gehöre auch, bei sich selbst zu schauen, „was man in sich vorfindet, welche unterschiedlichen Gefühle auftauchen? Oft kann ich nichts tun, als zu versuchen, achtsam zu differenzieren“.
Es gehe darum, zuzulassen, dass wir auch immer zwei Seiten in uns haben. „Ein Teil von mir will, dass alles bleibt, wie es ist. Ein anderer Teil will Veränderung“, so die Psychologin. „In mir dürfen beide Aspekte sein, auch wenn sie unterschiedlich gewichtet sind. Und in anderen auch.“
Check-in mit sich selbst
Kahraman rät, zu „prüfen, ob man im Entweder-Oder-Modus ist oder ob es einem gelingt, im Sinne von Sowohl-als-auch zu denken“. Das ist eine Maßgabe, die in der Therapie verschiedener psychischer Erkrankungen wichtig ist, wo es darum geht, statt schädlichem Schwarz-Weiß-Denken auch Grautöne wahrzunehmen.
Verschiedene Gedanken und Gefühle zuzulassen, zu erkennen und zu benennen ohne zu bewerten ist etwa der Acceptance-and-Commitment-Therapie (ACT) ein zentrales Element und kann auch im Alltag hilfreich sein.
Ambivalenzen auszuhalten bedeutet, innerlich flexibel zu bleiben – und das macht uns emotional stabiler und ermöglicht einen „engagierteren“ Angang ans Leben, so US-Psychiater Steven C. Hayes, der die ACT seit den 90er Jahren entwickelt hat - eben weil wir uns besser, authentischer und im Einklang mit unseren Werten entscheiden und verhalten können.
Also: Ambivalenzerfahrungen sind weder schlecht noch schädlich. Wenn man solche widersprüchlichen Gefühle aber nicht zulässt, ist es das - und man kann sogar psychische Krankheiten entwickeln.