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Leser-Helfen-Aktion Stark trotz kranker Muskeln

Die Selbsthilfegruppe "Muskel-Treff-Altmark" von Birgit Timmer aus Bismark unterstützt Betroffene von neuromuskulären Erkrankungen.

Von Egmar Gebert 20.12.2017, 00:01

Stendal/Bismark l Oft beginnt es schleichend, der Händedruck wird schwächer, die Muskelkraft in den Beinen lässt langsam nach. Man fühlt sich schwächer. Bei Birgit Timmer war es ähnlich und doch ganz anders. Denn hinter der gemeinhin „Muskelschwund“ oder „Muskelschwäche“ genannten Krankheit verbergen sich etwa 800 neuromuskuläre Erkrankungen.

Schon in ihrer Jugend quälten sie Muskelkrämpfe. Das sei das Wachstum, hieß es. Doch auch danach hörten die Krämpfe nicht auf. Birgit Timmer spricht von wahnsinnigen Schmerzen, die ihr den Schlaf raubten. Als Frau von Mitte, Ende 30 war ihr klar: „Hier stimmt was nicht.“ Sie bemerkte, dass zudem ihre Leistungsfähigkeit nachließ.

Es begann eine Odyssee von Arzt zu Arzt, die 14 Jahre dauern sollte. Das müsse wohl psychosomatisch sein, hieß es hier. Eine Muskel- biopsie wäre angeraten, hieß es dort. Letztere lehnte ihre Krankenkasse ab. Reha, Massagen, Physiotherapien – nichts half ihr wirklich. „Irgendwann konnte ich keine weißen Kittel mehr sehen“, erinnert sich die Bismarkerin, die dann selbst zu recherchieren begann. Die Internetseite der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke (DGM) machte sie unter anderem auf die beiden Neuromuskulären Zentren in Sachsen-Anhalt aufmerksam.

Ein Magdeburger Internist war es schließlich, der vermutete, es könne sich um eine „Kanalerkrankung“ handeln. Kanäle, die durch die Muskulatur verlaufen und deren Funktion beeinträchtigt sein kann. Die Bestätigung des Verdachts und damit endlich eine Diagnose bekam Birgit Timmer 2013 im Neuromuskulären Zentrum am Uni-Klinikum Halle: Myotonia congenita, eine der über 800 Muskelerkrankungen. Unheilbar, aber behandelbar. Das ist bei diesen Erkrankungen absolut nicht die Regel. „Die Chance, dass seine Muskelerkrankung behandelbar ist, hat nicht jeder“, erklärt Birgit Timmer, warum die Erleichterung, fast schon Freude über diese Diagnose groß war. Ein Medikament hilft ihr seither. „Die Krankheit wurde erträglicher, ein Stück Lebensqualität kam zurück“, sagt die Bismarkerin.

Mit diesem Gewinn begann auch der Wunsch zu wachsen, sich für Muskelerkrankte zu engagieren. Im August 2013 hatte Birgit Timmer ihre Diagnose bekommen, im Herbst schon war sie Mitglied in der Deutschen Gesellschaft für Muskelkranke.

Drei Jahre arbeitete Birgit Timmer im Bundesvorstand der DGM mit. Doch: „Ich bin voll berufstätig. Das war irgendwann nicht mehr machbar. Schließlich bin ich ja auch selbst Betroffene.“

Das Ende ihres Engagements? Im Gegenteil. Anderen Betroffenen auf ihrem schweren Weg helfen zu wollen, dabei aus einem großen Schatz an Erfahrungen schöpfen zu können, und die Chance, Informationen von Spezialisten zu Behandlungen weitervermitteln zu können – all das ließen Timmers Gedanken um die Gründung einer Selbsthilfegruppe kreisen. Überlegungen, die sie 2015, nachdem Birgit Timmer eine Schulung als Kontaktperson der DGM absolviert hatte, öffentlich machte.

Dass es Bedarf für eine Selbsthilfegruppe in der Altmark geben würde, hatte sie sich vorstellen können, aber: „Mit dieser Reaktion habe ich nicht gerechnet. Mehr als 20 Leute meldeten sich bei mir und ich stand vor der Frage: Wo gibt es die Möglichkeit, sich zu treffen?“ Birgit Hartmann, Gleichstellungsbeauftragte im Landkreis, half. Am 24. Oktober gründete sich in einem Raum der Stendaler Kreisverwaltung der „Muskel-Treff-Altmark“. Mitte Dezember trafen sich seine Mitglieder zum ersten Erfahrungsaustausch in der Tangermünder Bibliothek, dem neuen Domizil der Gruppe.

Seither gab es 15 solcher Treffen, die alles andere als Kaffeekränzchen mit Krankengeschichten waren. Welche Hilfsmittel gibt es für Muskelkranke, wie kommt man an sie heran? Was heißt Teilhabe aus Sicht der Betroffenen?, waren Fragen, auf die die Gruppe gemeinsam Antworten fand. Schwerbehinderung und deren Anerkennung, Informationsrunden mit Ärzten, die Teilnahme an einem Forum von Menschen mit Behinderungen im Landkreis Stendal, eine Gesprächsrunde über ein barrierefreies Tangermünde, ein Erfahrungsaustausch zum Umgang mit Sozialleistungen standen auf der Tagesordnung, Aber auch Treffen, in denen der Muskel-Treff-Altmark Kreativangebote unterbreitete oder zu einer Buchlesung einlud, gab es und soll es weiter geben.

„Wir versuchen, eine Mischung hinzubekommen, die zum einen viele Informationen zu Muskelerkrankungen bietet, aber auch Raum lässt, sich mit anderen Themen zu befassen, sich zu anderen Dingen zu treffen“, beschreibt Birgit Timmer den eingeschlagenen Weg, der sie inzwischen zur Volkssolidarität in Tangermünde geführt hat. Die bietet dem Muskel-Treff einen Raum mit Platz für bis zu 30 Personen. Den wird die Gruppe künftig gut gebrauchen können, wenn sie sich zum Beispiel bei einem der nächsten Treffen des Themas Reisen mit Behinderung annehmen oder perspektivisch auch Allgemeinmediziner zu Gesprächsrunden, ja Schulungen zum Thema Muskelerkrankungen einladen will.

Die Aktion „Leser helfen“ könnte ein Stein im Mosaik sein, das die Mitglieder des Muskel-Treffs-Altmark künftig noch bunter machen möchten.

Mehr Infos zu „Leser helfen 2017“ gibt es hier.