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Flüchtlinge „Unsere Familie ist größer geworden“

Fünf Pflegefamilien im Jerichower Land haben minderjährige Flüchtlinge aufgenommen: ein Beispiel aus Körbelitz.

Von Tobias Dachenhausen 28.03.2016, 07:00

Körbelitz l Eine schwangere Syrerin kauft in einem Supermarkt in Heyrothsberge eine Handykarte, die nicht zu ihrem Handy passt. Sie spricht Franziska Cüppers auf Englisch an und bittet um Hilfe. Sie wolle ihren Mann in Schweden erreichen. Kurzentschlossen gibt die Körbelitzerin der Frau ihr Handy. Die Syrerin bricht nach dem Telefonat mit ihrem Mann in Tränen aus. Seit Wochen hatte sie keinen Kontakt. Dem Mann ist die Flucht nach Schweden gelungen. Gemeinsam mit ihrer zweijährigen Tochter, die in der Zentralen Aufnahmestelle (Zast) in Heyrothsberge wartet, will auch die junge Frau dorthin. Zu diesem Zeitpunkt war sie wohl die einzige alleinreisende Frau im Aufnahmelager. Franziska Cüppers nimmt Frau und Kind mit nach Hause. „Sie haben hier gegessen und gebadet. Aber bleiben wollten sie unter keinen Umständen“, erinnert sie sich. Abends bringt die 47-Jährige die Flüchtlinge zum Bahnhof. Sie fahren nach Hamburg und von dort aus weiter nach Schweden. Für Franziska Cüppers und ihrem Mann Dr. Horst Schmitt (54) ist es die Initialzündung zum Helfen.

„In der Familie haben wir dann beschlossen, dass wir etwas machen wollen“, erzählt die Mutter von drei Töchtern. Platz im Haus ist ausreichend vorhanden. Der Kontakt zum Jugendamt wird hergestellt. „Da mein Mann und ich beruflich viel unterwegs sind, wollten wir eine Familie aufnehmen“, erzählt Cüppers. Die Behörde weist auf die Anzahl der unbegleiteten minderjährigen Flüchtlinge hin. So kommen Ali und Umer ins Spiel. „In der Zast haben wir die beiden erschöpften Jugendlichen erstmals gesehen und entschieden, sie sofort mitzunehmen“, erinnert sich die Körbelitzerin.

Die beiden Cousins, 17 und 16 Jahre alt, wurden neu eingekleidet und dann ging es nach Körbelitz. „Sie haben ein Zimmer für sich. Wir haben klare Regeln aufgestellt. Aber der Wille sich einzufügen, war sofort da“, erzählt Franziska Cüppers. Die Kommunikation läuft zum Teil in Englisch, zum Teil mit Händen und Füßen. „Gerade am Anfang sagten sie oft ‚ja‘, ohne verstanden zu haben, worum es geht. Sie wollten einfach nur höflich sein“, so die Pflegemutter. Aber es funktioniert. Mittlerweile gehen die beiden Jungs in die neunte und zehnte Klasse der Freien Waldorfschule in Magdeburg. Parallel lernen sie zweimal in der Woche Deutsch bei einer Lehrerin in Möser. „Die Fortschritte sind zu erkennen. Und sie haben akzeptiert, wie wichtig die Sprache ist, um sich zu integrieren“, erzählt die Pflegemutter.

In der Familie ist Alltag einkehrt. Werktags stehen die beiden Cousins um 5 Uhr auf, bereiten ihre Verpflegung für die Schule vor und fahren mit dem Fahrrad nach Gerwisch. Von dort geht es mit dem Zug nach Magdeburg. „Am Anfang haben wir sie noch gefahren und uns nicht getraut, sie alleine loszulassen. Aber nun sind sie selbstbewusster geworden und lernen Tag für Tag“, berichtet Franziska Cüppers. Das Verhältnis zu den Mitschülern ist gut. Nach der Schule wird des Öfteren noch Basketball gespielt. „Der Kontakt zu den Gleichaltrigen funktioniert, ist aber ein Prozess, an dem wir weiter dran bleiben müssen“, weiß auch die Pflegemutter. Nach der Schule ziehen sich die Jugendlichen erst mal zurück. Sie nutzen die Möglichkeit, Kontakt in die Heimat herzustellen. Am Abend helfen die beiden bei Arbeiten auf dem Grundstück oder kochen gemeinsam mit der Familie.

Ein Alltag, den sich Ali und Umer noch vor einigen Monaten nicht hätten vorstellen können. Über die Balkanroute, von Pakistan über Iran, Türkei, Griechenland, sind sie nach Deutschland gekommen. Sechs Wochen waren sie unterwegs, wurden ausgeraubt und mussten mit leeren Versprechungen leben. Im November gelangten sie dann nach Heyrothsberge, wo sie zwei Tage blieben, bis Familie Cüppers kam. „Wie groß muss die Not sein, dass eine Mutter ihre Kinder losschickt, in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Einfach unvorstellbar“, so Franziska Cüppers.

Gelandet sind sie jetzt in Körbelitz. Die Dorfgemeinschaft kennt sie bereits. Probleme gibt es nicht. „Wir haben das öffentliche Weihnachtsbaumaufstellen genutzt, um sie vorzustellen“, erzählen die Pflegeeltern. Es habe viel Zuspruch gegeben. Wenn sie jetzt mit dem Familienhund durch den Ort gehen, werden sie erkannt. „Ich fühle mich hier richtig gut“, sagt Ali in gebrochenem Englisch. Umer ergänzt: „Die Menschen hier sind sehr nett und hilfsbereit.“

Die Aufnahme der Pflegekinder hat im Hause Cüppers/Schmitt zu Veränderungen geführt. Jedoch: „Wir haben nie an unserer Entscheidung gezweifelt“, sagt Pflegevater Horst Schmitt. Die Familie sei einfach größer geworden. Einen Bonus als Flüchtlingskinder gab es allerdings nicht. „Ich denke, es ist auch ganz wichtig, dass die Kinder genauso behandelt werden, wie die eigenen“, betont die dreifache Mutter.

Die Körbelitzer sind eine von fünf Familien im Kreis, die Flüchtlinge aufgenommen haben. Möglichen Nachahmern können die Eheleute nur empfehlen: „Einfach machen. Nicht erst die Bedenken ausarbeiten.“ Die Unterstützung des Kreises sei gegeben, bei Bedarf werde ein Dolmetscher bestellt und der finanzielle Aufwand werde durch das Pflegegeld gedeckt, so Horst Schmitt. Die Familie sieht ihre Situation aber durchaus realistisch. „Wir haben sicher auch viel Glück mit den Jungs. Sie sind sehr bemüht, sich anzupassen. Das ist vielleicht nicht der Durchschnitt.“ Für ihn sei aber die räumliche Verteilung der Flüchtlinge in die Mitte der Bevölkerung das Erfolgsrezept für die Integration. „Nur das kann der Weg sein“, macht Schmitt deutlich.

Die Familie hat die beiden Jugendlichen ins Herz geschlossen. Umso schwerer würde der Verlust sein, wenn die beiden wieder nach Pakistan zurück müssten. „Es gibt dort unten Familienfehden, aber wir wissen natürlich, dass das passieren kann, da Pakistan als sicheres Herkunftsland gilt. Darum müssen wir die Zeit jetzt intensiv nutzen“, sagt Franziska Cüppers. Sie sollen die Sprache lernen, eventuell eine Ausbildung beginnen. Im Sommer werden Möglichkeiten für Praktika durchgegangen. „Wir hoffen, dass sie noch möglichst lange bleiben können, damit sie ein Teil unserer Gesellschaft werden“, betont die Körbelitzerin.

Und falls doch der Zeitpunkt der Rückreise nach Pakistan kommen sollte, werden sich Ali und Umer gewiss immer an ihre Pflegeeltern erinnern. So wie die schwangere Syrerin, die zu ihrem Mann nach Schweden wollte. Mittlerweile ist auch das zweite Kind geboren. „Wir haben immer noch Kontakt“, sagt Franziska Cüppers.