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"Ihr da!" ist das gedruckte Ergebnis von drei Jahren Schreibwerkstatt in der JVA Madel Dialog, der durch Gitterstäbe geht

Von Stephen Zechendorf 08.10.2014, 03:04

In der Justizvollzugsanstalt Madel ist im Rahmen der 23. Landesliteraturtage ein Buch mit Texten von Häftlingen und nicht haftverbüßenden Autoren vorgestellt worden. Volksstimme-Mitarbeiter Stephen Zechendorf stellt das Buch "Ihr da!" vor.

Burg l Es ist einer der wenigen Bände mit Gedichten und Kurzgeschichten, die ich nicht nur gelesen, sondern wirklich verschlungen habe. Und das liegt nicht daran, dass darin auch ein paar Zeilen von mir veröffentlicht sind.

"Ihr da!", Untertitel "Einblicke und Ausblicke - Texte aus dem und in den Knast" ist eine Sammlung von Gedanken zum Thema Gefängnis. Mehr noch. Es ist eine außergewöhnlich interessante und vielseitige Antwort auf "Was-Sie-schon-immer-über-Knast-wissen-wollten-aber-nie-zu-fragen-wagten".

In der Anthologie "Ihr da!" antworten Insassen der Justizanstalten Madel und Bernburg und Leute, die sich damit auskennen (oder auch nicht) völlig ungefragt. Die Gedichte, Geschichten und Gedanken erzählen von Freiheit, Haftalltag, dem Blick auf die getane Tat und die zugewiesene Schuld. Sie handeln vom Blick derer da draußen auf die da drinnen und andersherum. Schüler der Integrierten Gesamtschule (IGS) Willy Brandt Magdeburg, der Sekundarschule Hinrich Brunsberg ,Tangermünde, kommen zu Wort, ebenso freie Autoren aus Burg, Möckern und Magdeburg. Und dann natürlich die Häftlinge. Dazu gibt es Fotografien der Magdeburgerin Beatrice Dittmann. Ihr Kunststück: Detailfotos eines Schiffes wirken wie die Nahaufnahmen eines Zellentraktes.

Jetzt ist das Buch im Buchverlag für die Frau, Edition Silberflügel erschienen. Die Premierenlesung fand in Madel, im Knast selber, statt. Und ausgerechnet in der Justizvollzugsanstalt Burg, wo doch sonst keiner freiwillig rein will, lauschten über 60 Leute dem, was Knackis, Seelsorger, Krimischreiber, Schüler und andere Nachdenker zum Thema "Justizvollzug" zu sagen haben.

Das Besondere daran: Alle vortragenden Autoren hatten sich für diesen Abend die gleichen T-Shirts übergezogen, es war kaum noch erkennbar, wer hier Häftling, wer Externer ist, wer "Ihr da" und wer "Wir hier" sind. Das merkte man erst an den Textinhalten. Und wer die Sätze liest oder bei der Lesung hörte, der mag sich wundern, welch versteckte Talente in den Verfassern schlummern. Es erscheint nahezu unwirklich, dass jemand, der so derbe gegen Werterichtlinien unserer Gesellschaft verstoßen hat, dass wir bei der Zeitungslektüre darüber erschauerten, dass diese Menschen in der Lage sind, solch nachdenkliche Zeilen zu verfassen.

"Mit jedem Tag hier entfernt sich die Freiheit mehr, die Welt entschwindet mir. Vor dem Tor verrinnt eine andere Zeit, die ich Tag um Tag weniger verstehe. Die Freiheit wird mir fremd."

H. Hennings

Verkannte Talente oder im Knast erst erweckte Gedanken? Sitzen die Mörder, Serien-einbrecher, Brandstifter und Sexualverbrecher deshalb hier ein, damit sie so denken lernen können? Öffnet der Knast die Seele, weil man hier so schrecklich viel Zeit zum Nachdenken hat? Beim Lesen der Texte gerät man ins Grübeln, die Grenzen zwischen schwarz und weiß, zwischen "uns hier draußen" und "denen da drinnen" werden diffus.

Diese Grenzen werden mit dem seit drei Jahren existierenden Knastliteraten-Projekt überwunden. Der Schriftsteller Ludwig Schumann, Leiter der Knast-Schreibwerkstätten "TalentLos!" in Madel und "Ghostwriter" in Bernburg, sorgt mit dem daraus hervorgegangenen ersten Buch "Ihr da!" für einen fruchtbaren Gedankenaustausch zwischen drinnen und draußen. In der Schreibwerkstatt und bei der Buchpremiere im Knast begegnen sich Häftlinge und Externe dann auch wahrhaftig. Mit dem Dresdener Perkussionsprofessor Günther "Baby" Sommer, der die Premieren-Lesung in Burg mit mitreißendem Schlagwerk-Spiel begleitete, haute in Madel jemand auf die Pauke, der schon mit Günther Grass die "Blechtrommel" aufgeführt hat.

Das Buch "Ihr da!" hat das Zeug, eine gute Werbetrommel zu sein für den weiteren Dialog zwischen Tätern und Gesellschaft und vielleicht sogar Opfern.