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Flüchtlinge Erste, zweite, dritte Heimat

Menschen sind immer vor Krieg und Not geflohen. Ein Projekt hat das Jugendhaus Parey mit Jugendlichen und Zeitzeugen gestartet.

Von Andreas Mangiras 11.11.2017, 00:01

Ferchland l „Jerichow ist meine dritte Heimat“, sagt Gudrun Jahn, Jahrgang 1934. „Hier habe ich am längsten gelebt und hier werde ich auch bleiben.“ Die frühere Lehrerin und immer noch sportbegeisterte Seniorin stammt aus dem Sudetenland. Sie musste ihre Heimat im Mai 1945 verlassen, mit ihrer Mutter und den drei kleineren Schwestern. Die Alliierten Siegermächte hatten es so beschlossen. Die Tschechen setzten es um. „Sie jagten uns mit Gewehren und aufgepflanzten Bajonetten fort.“ Erst ging es in ein Lager vor der Stadt, später dann im Viehwaggon zunächst auf die sächsische Seite des Erzgebirges nach Reizenheim. Die Heimat war verloren.

Navid ist seit wenigen Tagen 18 Jahre alt. Er spielt leidenschaftlich gern Fußball bei Lok Jerichow. „In der Männermannschaft“, sagt der junge Afghane lächelnd in richtig gutem Deutsch. Seit 2016 ist er erst in Deutschland. Er floh von Zuhause, „mit einigen Kumpels, 8400 Kilometer in 42 Tagen. Dann war ich hier. Meine Freunde sind in anderen Ländern in Europa. Meine Familie ist in Afghanistan. Dort ist Krieg, dort ist es schwer.“

Gudrun Jahn und Navid gehören unterschiedlichen Generationen an. Sie stammen aus verschiedenen Ländern und Kulturkreisen. Doch verbindet sie etwas, das ihrer beider Leben eine gravierende Richtungsänderung aufzwang: Schwerwiegende Konflikte, Krieg und Not machten beide in Kindesjahren zu Flüchtlingen.

Mit einem besonderen Filmprojekt spürt das Jugendhaus Parey dieser wiederkehrenden Grundkonstellation in persönlichen Lebensgeschichten von Menschen aus der Region Genthin/Elbe-Parey/Jerichow, die während oder nach dem Zweiten Weltkrieg aus ihrer Heimat vertrieben wurden oder fortgehen mussten, und jungen Syrern und Afghanen nach, die mit der Flüchtlingswelle seit Ende 2015 aus ihren Heimatländern nach Deutschland und ins Jerichower Land gekommen sind.

„Wir finden das spannend, die Menschen zusammenzubringen, zu erfahren, was ihre Erfahrungen sind. Vielleicht ist es lehrreich“, sagt Jugendhausleiterin Ulrike Paul. Zusammen mit Mitstreiter Manfred Göbel und der Filmemacherin Franziska Bartsch, einer gebürtigen Güsenerin, haben sie ein Projekt entwickelt, das über das Projekt „Demokratie leben“ für die Region Elbe-Parey, Jerichow, Genthin gefördert wird.

In der Touristenstation Ferchland fand jetzt der erste Workshop statt. Zum Kennenlernen, zum Besprechen des Fahrplans, zum Fragen entwickeln, zum Üben.

Ulrike Paul und ihre Mitstreiter haben Zeitzeugen in der Region gefunden, die von ihrer Flucht vor nunmehr über 72 Jahren erzählen werden, Gudrun Jahn, zum Beispiel, oder Alfred Jansky aus Güsen und Brigitte Meier aus Jerichow. „Wir wollen das erzählen, weil es sonst von den Alten niemand mehr erzählt“, sagt Gudrun Jahn. Man spürt, es ist ihr wichtig. „Unsere Familie musste nicht, wie viele andere, direkt vor dem Krieg fliehen, aber wir mussten aus unserer Heimat weg, weil es den Krieg gegeben hatte. Die Deutschen haben schon schwer gewütet und viel Leid angerichtet.“

Ulrike Paul hat Jugendliche aus der Region eingeladen. Sie werden die Interviewer der Zeitzeugen sein. „Alle bekommen die gleichen Fragen. Wir wollen es vergleichbar machen. Wir wollen sehen, was gleich und was anders ist.“

„Es ist schon wahnsinnig interessant“, sagt Manfred Göbel. Er ist mit drei Flüchtlingen aus Syrien und Afghanistan nach Ferchland gekommen. Mohamed (37), Marc (31) und Navid (18) wollen erzählen, wie es ihnen ergangen ist, warum sie heute in Deutschland sind.

„Ich bin dankbar und es ist eine Ehre für mich, dass ich an diesem Projekt teilnehmen darf“, sagt Marc. Der junge Syrer war in seiner Heimat Englischlehrer. Auch Deutsch hatte dort schon in der Schule. Heute ist er Lehrer und Dolmetscher in der Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge in Klietz. Im vorigen Jahr kam seine Frau nach. Sie hatte in Indien studiert. Nach Syrien konnte sie wegen des Krieges nicht mehr zurück.

„Meine Familie lebt in der Nähe von Damaskus. Die Gefahr ist schon kleiner geworden. Aber es ist immer noch sehr gefährlich“, sagt Marc. Als er wenig später von Jugendlichen interviewt wird, ob er noch Kontakte zu seinen Klassenkameraden hat, muss er schlucken. „Ja, schon, aber einige von meinen Klassengefährten sind tot, im Krieg von Bomben getötet.“

Laura Karbe und Laura Ketzler (beide aus Güsen) gehören zu den Jugendlichen, die beim Projekt mitmachen. „Das Thema hat es in sich, das interessiert mich“, sagt die eine Laura. Und die andere: „Ja, das ist es, ich setze mich auch in der Schule dafür ein, dass solche Themen besprochen werden und wie wir miteinander umgehen.“

Nach dem Warmmachen und Kennenlernen vor wenigen Tagen finden Ende November die Interviews mit den Teilnehmern zu den Erlebnissen ihrer Flucht statt.

Im nächsten Jahr sind noch Spielszenen geplant, berichtet Manfred Göbel. Sie sollen anhand der Erzählungen der Flüchtlinge von damals und heute entstehen. Das wird dann auch Franziska Bartsch’ zweiter Part am Projekt sein.

Für die Interviews hat sie die Jugendlichen bereits gut in ihre verschiedenen Rollen eingestimmt - wie an einem richtigen Set eben, der Drehort. Interviewer, Kameramann oder -frau, Einweiser, die sich um die Interviewten kümmern.

In der Warmmach- und Kennenlernrunde geht es den Interviewern um die Zeit vor der Flucht, auch um schöne Erinnerungen, etwa aus der Schulzeit. Gudrun Jahn erinnert sich, dass sie schon sehr früh lesen konnte. Der Vater sei Lehrer gewesen. 1940 sei sie in ihrem Heimatort Ukkern in die Schule gekommen. Lernen hat ihr stets Spaß gemacht. Später wurde sie selbst Lehrerin. Und heute? „Schülerin würde ich heute nicht mehr sein wollen. Aber Lehrerin würde ich wieder gern sein.“

An die erste Zeit nach der Flucht erinnert sich Gudrun Jahn noch ganz genau. „Ich war die Älteste von uns vier Mädchen, meine Mutter verlangte viel von mir. Meine Eltern hatten sich getrennt.“ Zunächst sollte die Familie aus Sachsen nach Bayern kommen. „Dorthin wurden viele Sudetendeutsche gebracht. Doch irgendwann hieß es, Bayern ist voll, ihr kommt nach Thüringen. Friedrichsroda wurde meine zweite Heimat.“

Die Mutter eröffnete eine Schneiderstube, absolvierte erfolgreich einen Meisterkurs. Nach zwei Jahren wurde es besser, erinnert sich Gudrun Jahn. Sie wurde tatsächlich Lehrerin und fand in Jerichow ihr Glück und ihre dritte Heimat.

„Es ist ein großes Projekt“, berichtet Manfred Göbel. Es baut auf einem Vorgängerprojekt auf. Dort war es schon einmal um Zeitzeugen aus dem Zweiten Weltkrieg gegangen. Und jetzt diese Studie zur Flucht. Was werden die Beteiligten berichten? „Wir sind gespannt“, sagt Göbel. Für das zweite Modul im Frühjahr muss noch ein wenig an der Finanzierung „geschraubt“ werden. Ulrike Paul und ihre Mitstreiter sind optimistisch. „Wenn wir den Film dann zeigen können, mit Menschen von hier, dann ist das doch was.“

Der Krieg hat viel zerstört, weiß Marc. „Auf meine Kinder- und Schulzeit schaue ich wie auf einen Traum.“ Sein Heimatdorf ist zerstört. Seine Familie lebt aber. Seine Frau ist inzwischen bei ihm. „Ich war immer offen für Neues“, sagt Marc und ist überzeugt: „Das ist eine Chance.“

„Ja, ich habe meine erste Heimat verloren“, sagt Gudrun Jahn. Sie erinnert sich noch, wie Juden damals auf den Marktplatz getrieben wurden - zum Abtransport. Als Kind hatte sie nur das Bild. Erst später wusste sie, was es bedeutete - den Tod. „Als wir in unsere neue Heimat kamen, sprachen wir wenigstens die gleiche Sprache. Das war viel wert. Man sieht es heute. Zwischen Einheimischen und Flüchtlingen ist es viel schwerer, wenn es mit der Sprache nicht klappt.“ Und Navid? An der Berufsschule in Burg lernt er für den Hauptschulabschluss. Im vorigen Jahr hat das noch nicht geklappt. Es hat an Deutsch gehapert. Jetzt ist es besser, viel besser. „Ja, schon ganz gut“, schmunzelt er. Es sei gut, dass sie bei 20 Schülern in der Klasse nur zwei Flüchtlinge seien. „Das passt, da muss man deutsch reden.“ Und das will er. Er hat einen Plan: „Nach dem Hauptschulabschluss das Abitur machen. Weiter schaue ich noch nicht. Das ist jetzt das Wichtigste für mich.“

„Ja, verliere das Ziel nicht aus den Augen, Du schaffst das“, bestärkt ihn der Syrer Marc.