1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Burg
  6. >
  7. Kinderknast am Stadtrand

Jugendwerkhof Kinderknast am Stadtrand

Von 1949 bis 1990 erlebten tausende Jugendliche unter teils harten Erziehungsmethoden schlimme Zeiten in Burg.

Von Andreas Mangiras 31.10.2015, 00:01

Burg l „Wenn sich nur drei Leute finden, die im Jugendwerkhof Burg eingesessen haben, dann könnte man erstmal mit einem nicht eingetragenen Verein beginnen“, sagt Roland Herrmann. „So hat es auch bei uns angefangen.“ Herrmann ist Vorsitzender des Vereins „Kindergefängnis Bad Freienwalde“ im Brandenburgischen. Hier befand sich einst ein Durchgangsheim. Der Verein besteht seit Anfang 2012. Er will Anlaufstelle sein, er kämpft um Rehabilitation für die Ehemaligen. Rehabilitiert werden bis dato jedoch nur jene, die in Torgau, dem einzigen geschlossenen Jugendwerkhof in der DDR, mindestens 180 Tage eingesessen haben.

Der Verein aus Bad Freienwalde sucht Verbündete im politischen Raum. „Mit Dieter Dombrowski, Landtagsvize in Brandenburg, und Heide Schinowski von den Grünen im Landtag haben wir welche gefunden.“ Dombrowski (CDU) ist seit kurzem Bundesvorsitzender der Union der Opferverbände kommunistischer Gewaltherrschaft. Der Bad-Freienwalde-Verein hat sich der Union angeschlossen. Demnächst hat der Verein ein Treffen mit Brandenburgs Ministerpräsident Dietmar Woidke (SPD), berichtet Herrmann. Im Januar soll es eine große öffentliche Podiumsdiskussion zum Thema in Bad Freienwalde geben.

Bad Freienwalde ein Vorbild für Burg? Herrmann meint Ja. Das könnte einiges bewegen, für die Betroffenen und für das Nichtvergessen und Erinnern an jüngste Burger Geschichte. Erst dann wird es wohl auch eine Erinnerungsstafel oder eine Gedenkstätte in der Stadt oder auf Gut Lüben geben.

Ehemalige Insassen der DDR-Spezialheime erhalten nach Auffassung der Landesbeauftragten für Stasi-Unterlagen kaum Hilfestellung. In Sachsen-Anhalt existiere keine einzige Anlaufstelle, wo sich Betroffene begegnen und ihre Erfahrungen aufarbeiten könnten, sagte Birgit Neumann-Becker jüngst (Volksstimme berichtete). Viele seien bis heute traumatisiert, litten unter gesundheitlichen Problemen und lebten in schwierigen wirtschaftlichen Verhältnissen. Neumann-Becker forderte mehr Unterstützungsangebote. Der 2012 aufgelegte Heimkinderfonds Ost darf kein Schlussstrich unter diesem Thema sein, sagte sie.

Ein Versuch, in Sachsen-Anhalt etwas ähnliches auf zu Beine zu stellen, hat vor einiger Zeit nicht geklappt. „Es ist schwierig. Die Leute leben weit verstreut, viele sind krank, leben von Hartz IV, sind am Leben, mehr nicht“, beschreibt Torsten Ehms die Probleme, woran eine Vereinsgründung scheitert. In Facebookgruppen tauschen sich Ehemalige aus. Sie zeigen, dass es enormen Bedarf gibt.

Der gebürtige Sömmerdaer, der heute in Magdeburg lebt, war hier von 1987 bis 1990 in Burg. Als 13-Jähriger hatte er sich in der Schule aufmüpfig benommen. Für die Verantwortlichen war das mehr als politisch inkorrekt, sie sahen im Verhalten des Teenagers einen Angriff auf den Staat und reagierten drakonisch: Ehms musste in den Jugendwerkhof. Vor zwei Monaten im September war er wie viele Andere beim Ehemaligen-Treffen in Burg (Volksstimme berichtete). Ob, wann und wie es im nächsten Jahr ein Ehemaligentreffen in Burg gibt ist derzeit offen, sagt Torsten Ehms.

Bis heute leiden viele unter den Erlebnissen und den seelischen wie körperlichen Strapazen von damals. Wer im Jugendwerkhof war, war oft abgestempelt, fühlte sich auch so, oft bis heute. „Du hast keine Schuld, darum musst du dich nicht schämen“, sagt Ehms.

Laut einer neuen Publikation mit dem Titel „Ich nenne es Kindergefängnis“ gab es bis 1989 auf dem Gebiet des heutigen Sachsen-Anhalt 48 Spezialheime, in denen die Menschenrechte von Kindern und Jugendlichen systematisch verletzt wurden. Im Jugendwerkhof „August Bebel“ in Burg waren ständig knapp 300 Jugendliche untergebracht und erlebten teilweise schlimme Zeiten. Er wurde 1949 gegründet und existierte bis 1989. Zum Jugendwerkhof auf Gut Lüben in Burg gehörten die Außenstellen „Neues Leben“, Blumenthal, Körbelitz und Berliner Chaussee. Die Jugendlichen mussten in Burg unter anderem im Knäckewerk, in der Schuhfabrik „Roter Stern“, im Sägewerk in Küsel und Walzwerk in Burg schwere und schwerste Arbeiten verrichten. Spezialheime gab es im Jerichower Land in Brandenstein, Schlagenthin, Reesdorf und Lüttgenziatz. Im Zerbster Raum gab es ein Spezialheim in Zerbst.

Der Jugendwerkhof war eine Disziplinareinrichtung, die dem Ministerium für Volksbildung unterstand. Eingewiesen wurden Jugendliche zwischen 14 und 18 Jahren, die sich gegen die Erziehungsmethoden der Jugendhilfe und der sozialistischen Strukturen auflehnten. Viele kamen hierher, weil sie in zerrütteten Familien lebten und der Staat eingriff. Es ist belegt, dass auch Jugendliche eingewiesen wurden, deren Eltern in den Augen des SED-Regimes politisch fragwürdig waren. 1989 gab es 31 Jugendwerkhöfe mit 3336 Plätzen, von denen 2607 belegt waren.

Die Bundesrepublik zahlt heute auf Antrag und nach Prüfung Unterstützung für ehemalige Jugendwerkhöfler: 10 000 Euro in Geld und Sachleistungen. In Magdeburg gibt es dafür eine Anlaufstelle in der Turmschanzenstraße.

Der Staat wird seiner Verantwortung nicht gerecht, meint Torsten Ehms. Der Heimkinderfonds, für den nur bis September 2014 Anträge gestellt werden konnten, ist aus seiner Sicht zu wenig, auch wenn er rund 40 Millionen Euro umfasst. Bei weit über 135 000 Betroffene, die in Spezialheimen und Jugendwerkhöfen eingewiesen waren, ist das pro Kopf nicht viel, gemessen an dem, was viele durchgemacht haben und heute noch darunter leiden.