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Sucht Sieben Jahre auf dem Trockenen

Jürgen Wilkening ist seit sieben Jahren trockener Alkoholiker. In der Drogenberatungsstelle Burg teilt er seine Erfahrungen.

Von Susanne Klose 06.01.2019, 07:00

Burg l Jürgen Wilkening sitzt am Tisch in einem kleinen Büro in der Drogenberatungsstelle Burg. Ein ruhiges Lächeln umspielt sein Gesicht. Jürgen ist trockener Alkoholiker. Und diese Ruhe sein hart erkämpfter Sieg über die Sucht. Er weiß, wie es ist, ganz unten zu sein. Wenn das flüssige Gift durch die Adern brennt, die Muskeln so geschädigt sind, dass eine aufrechte Haltung körperlich kaum möglich ist.

„Es fing langsam an“, erinnert sich der hochgewachsene Mann. Ein Bier hier, ein Bier da – und irgendwann gab es kein dazwischen mehr, auch auf der Arbeit. 1996 unterzog er sich einer Entgiftung, auf Drängen seines damaligen Arbeitgebers. „Mach mal was gegen dein Alkoholproblem, meinte der Chef.“ Machte er. Kaum raus, wieder der Griff zur Flasche.

Ein Jahr später verliert Jürgen Wilkening seinen Job. Kurz danach stirbt sein Vater, auch ein Alkoholiker. Seine Ehe zerbricht, seinen Sohn wird er jahrelang nicht sehen. Er fällt in ein tiefes Loch. Jeder Schluck bringt ein Stück gefühlte Normalität für ihn zurück. Seine Mutter bricht den Kontakt ab. Nur eine Konstante bleibt – die Flasche.

„Ich brauchte am Ende nicht mehr viel“, erzählt er. Denn der Alkoholpegel ist konstant hoch. Irgendwann trifft er auf dem Nachhauseweg vom Besuch beim Jobcenter seinen Nachbarn auf der Treppe, nur noch ein Schatten seiner selbst. „Er hatte zu mir gesagt: Jetzt verkriech dich nicht wieder in deiner Wohnung!“, erinnert sich der schmale Mann. Er fragt ihn, ob er nicht beim Streichen helfen wolle – ein simpler Satz und der Anfang vom Ende der Alkoholsucht.

Danach gehen die Männer zusammen in Jürgen Wilkening Wohnung. Alles alkoholische fließt rigoros in den Abfluss. „Ich wollte den Pfand mit meinem Fahrrad zum Automaten bringen, keine Ahnung, wie oft ich dahin musste und wer mich dabei gesehen hat, es war mir egal.“ Nur weg damit. Es ist der 18. März 2011. Sein zweiter Geburtstag.

Was dann folgt, gehört zu den härtesten Tagen, die der nachdenkliche Mann je erlebt hat. Schweißausbrüche, Schmerzen, massive Gleichgewichtsstörungen – ein kalter Entzug von heute auf morgen. Und der Beginn eines neuen Lebens.

Nach den ersten harten Tagen besucht Jürgen die Drogenberatung in Burg. „Ich habe die Zeitung aufgeschlagen und die Anzeige gesehen und bin dann direkt hin.“

Leiter Jan Eiglmeier vermittelt ihn an eine Hausärztin. „Ich bin darein und habe gesagt: ‚Ich bin Alkoholiker‘. Ein Satz wie ein Befreiungsschlag. Er wird ihn noch viele Male sagen. Im Jobcenter. Bei seinem Vermieter. Sogar bei den Stadtwerken. „Ich habe mich so befreit gefühlt, endlich konnte ich es offen sagen und Worte dafür finden!“, erzählt der 53-Jährige aufgeregt.

Unter ärztlicher Aufsicht lernt sein Körper über fast drei Jahre, ohne den Treibstoff aus der Dose zu leben. „Du kannst in der Zeit nicht viel machen, du kriegst keine Luft, kannst nicht mehr weit laufen“, beschreibt Jürgen diese Zeit. Was bleibt ist Zeit zum Nachdenken – und auch das muss er erst wieder richtig lernen: die eigenen Gefühle und Gedanken zuzulassen, sie nicht zu ertränken.

Als er dem Sozialpädagogen Jan Eiglmeier von seiner Mutter erzählt, schlägt ihm dieser vor, doch einfach mal einen Brief zu schreiben. „Zwei Din A4-Seiten, das war schon ganz schön was!“ Er erzählt ihr von seinen Plänen, von der Langzeittherapie, die er 2013 beginnen wird. „Und was ich bin – ein Alkoholiker.“

Tagelang ist Jürgen nervös, der Gedanke lässt ihn nicht los. Sie schreibt zurück, voller Freude. „Das war ein absolutes Hochgefühl!“ Mittlerweile hat er sie schon mehrmals besucht, jede Woche klingelt mindestens einmal das Telefon.

Und irgendwann läuft Jürgen auf dem Weg zur Drogenberatungsstelle seinem Sohn über den weg. Sie sprechen kurz, es bleibt viel ungesagt. Es ist 2014, die drei Monate Langzeittherapie in der Soteria Klinik Leipzig hat Jürgen geschafft. Ein paar Tage später steht Jürgens Sohn in der Drogenberatungsstelle Burg, fragt seinen Vater nach allem, was passiert ist. „Und dann hat er irgendwann gesagt, toll, mein Papa ist gar nicht so wie man mir immer gesagt wurde.“ Jürgen strahlt und schlägt die Hände zusammen.

Seit 2015 arbeitet er im Suchthilfeverein Aufbruch über das Programm „Soziale Teilhabe am Arbeitsmarkt“ (Sota). Seitdem unterstützt er Suchtkranke auf dem langen Weg zurück in das Leben fernab der Flasche.

Es ist 2018 und Jürgen Wilkening ist trockener Alkoholiker. Was bleibt: Herzprobleme, Gleichgewichtsprobleme, Kreislaufprobleme, ein angegriffenes Nervensystem mit Kribbeln und Kälte in den Beinen. Die jahrelange Alkoholsucht hat ihre Spuren hinterlassen. Wenn Jürgen redet, dann mit bedacht. Manchmal muss er länger nachdenken, länger formulieren. Die jahrelange Alkoholsucht hat ihre Spuren hinterlassen. Trotzdem blickt Jürgen jedem Tag positiv entgegen. Er ist ein Kämpfer.

Mitte 2019 wird er die Weiterbildung zum Gruppenleiter beenden. Dann kann er eine Selbsthilfegruppe in der Drogenberatungsstelle anleiten. Seit November arbeitet er im Sozialkaufhaus „Brauchbar“ des Aufbruchvereins in der Bahnhofstraße. „Ich habe vor kurzem meinen ersten Lohnzettel bekommen, das war klasse!“, freut sich der 53-Jährige. Er gehört jetzt wieder dazu. Und will nie wieder weg.