1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Gardelegen
  6. >
  7. Einblick ins Gerichtsarchiv

Amtsgericht Einblick ins Gerichtsarchiv

Schicksale, Schätze, Schenkungsurkunden: Im Keller des Amtsgerichts lagern uralte Dokumente. Vier Mitarbeiterinnen sichten den Bestand.

Von Gesine Biermann 19.03.2017, 02:00

Gardelegen l Der Umschlag ist vergilbt, aber die Schrift ist noch tipptopp: „Hierin befindet sich das von mir errichtete Testament, des Arbeiters Friedrich D. aus Deetz“ kann man darauf lesen – so man es denn lesen kann. Denn auch wenn jener längst verstorbene Mann für sein Testament garantiert echte Dokumententinte verwendet hat, die irgendwie auch nach 100 Jahren noch aussieht, wie frisch geschrieben, hat er seinen letzten Willen damals natürlich in alter Schrift verfasst. Sieht kunstvoll aus – kann aber heute längst nicht mehr jeder entziffern.

Dorothee Heuer kann das zum Glück. „Meine Mutti hat noch deutsch geschrieben“, verrät die Geschäftsstellenmitarbeiterin im Gardeleger Amtsgericht. Und so kann sie auch sagen, was der Arbeiter Friedrich D. aus Deetz anno 1907 dem „Grundsitzer und Zimmermann Karl-Friedrich-Wilhem Sch.“ vermachte, nämlich 1550 Mark. „Und das war damals schon ganz schön viel Geld“, versichert Heuer.

Geschichten wie diese haben Dorothee Heuer und ihre Kollegen Doris Kirchhoff und Juana Dannies – beide Rechtspflegerinnen – und Franziska Krüger, die ebenfalls in der Geschäftsstelle arbeitet, in der jüngsten Zeit öfter mal in der Hand.

Zum Lesen haben die vier Frauen allerdings wenig Zeit. Denn es wird gerade aufgeräumt im Archiv des Gardeleger Grundbuchamtes. Dort lagern Dokumente aus drei Jahrhunderten. „Die ältesten stammen aus dem Jahr 1879“, sagt Doris Kirchhhoff. Es sind Testamente und Verträge aus Oebisfelde, Klötze und Beetzendorf. Alle drei Orte hatten einst ein eigenes Amtsgericht. Nach der Auflösung von Beetzendorf und Oebisfelde wurden zunächst alle Unterlagen nach Klötze geschafft. Als auch dieser Gerichtsstandort geschlossen wurde, kamen sie in großen Kartons nach Gardelegen. „Und zwar alle durcheinander“, so Kirchhoff. Wenn also eine alte Akte benötigt wurde, mussten die Kollegen ewig suchen.

Das soll künftig anders werden. Deshalb wird nun im Keller jede einzelne Akte gesichtet, beschriftet, katalogisiert und neu einsortiert. Ein Rechner steht deshalb auch dort. In dem werden die gefundenen Akten aufgelistet, es werden Etiketten gedruckt, um Zeiträume zusammenzufassen.

Geordnet wird nach Jahren, nach Ortschaften und dem Namen der Notare, die einst die Akten anlegten. Übrigens picobello. Und auch erhalten sind die Papiere – bedenkt man ihr ehrwürdiges Alter – eigentlich noch ganz gut. Damals wurde offenbar noch kein Ökopapier verwendet.

Eine staubige Angelegenheit ist das Ganze dennoch. „Das sieht man, wenn man abends nach Hause geht“, sagt Dorothee Heuer schmunzelnd.

Aber sie kann verstehen, wie wichtig diese Aufräumaktion für die Kollegen des Grundbuchamtes ist. Deshalb helfen sie und Juana Dannies auch mit. Zu viert geht es einfach schneller. Und so bleibt in der Pause auch ein bisschen Zeit, um für die Volksstimme-Leser mal in das Leben ihrer Vorfahren zu schauen.

Zum Beispiel in das Testament eines Bauern aus Berge, der vor rund 110 Jahren seiner Tochter Minna Haus und Hof vermachte. Allerdings musste Minna auch ihre Brüder bedenken. Otto und Hermann sollten laut Testament nämlich „je 750 Mark“ bekommen. Kein Problem für Minna. Immerhin hinterließ der Vater eine 2000-Mark-Barschaft. Für Hermann gab es dann sogar noch ein Vermächtnis: Sollte der bis zu seinem 30. Lebensjahr nämlich heiraten, habe er Anspruch auf „ein eineinhalbschläferndes Bett“, heißt es im Testament. Und auch an seine Ehefrau hatte der Bauer gedacht. Sie solle „lebenslanges Wohnrecht im Altenteil, freies Brennholz, jährlich zehn Zentner gute Esskartoffeln, wöchentlich ein Pfund Molkereibutter und ein frisches Hausbrot“ sowie „Sonntags immer eine Mark Taschengeld“ erhalten. Er hatte also an alles gedacht, der Bauer aus Berge.

Ob alle zufrieden waren, ist zwar den Akten nicht zu entnehmen, doch Dorothee Heuer ist davon eigentlich überzeugt. Früher seien die Menschen bescheidener gewesen, sagt sie. „Damals gab es noch nicht so viele Zankereien unter Erben wie heute.“ In der jüngsten Zeit, besonders seit der Wende, haben Erbstreitigkeiten nämlich extrem zugenommen. Ebenso wie Erbausschlagungen. „Das gab es damals zwar auch schon, aber eher selten“, weiß Heuer. Und das beweisen auch die Akten dort unten im Gerichtskeller. Denn dort sind natürlich auch solche Fälle zu finden. Erben war eben noch nie so ganz einfach.

Aber auch zu früheren Zeiten ging es häufig um Gelddinge. Das beweisen auch die Regale mit den vielen alten Notarverträgen, die ebenfalls noch alle im Archiv schlummern – übrigens gibt es kein Zeitlimit, versichert Heuer. Und das ist auch gut so. „Gerade kürzlich habe ich erst eine Akte hochgeholt, die schon 120 Jahre alt ist“, erzählt Doris Kirchhoff.

Meist sind es Grundstücksangelegenheiten, die damit geklärt werden können. Und das ist häufiger der Fall, als man annehmen mag. „Zu DDR-Zeiten hat das manche ja gar nicht interessiert, wem da welcher Acker gehörte“, erklärt Dorothee Heuer, „Flächen waren an die LPG-en verpachtet und gut.“

Doch gerade seit in der jüngsten Zeit die Ackerpreise so angestiegen seien, gebe es wieder mehr Nachfragen. „Und dann muss immer die gesamte Erbfolge nachgewiesen werden.“ Und das funktioniere eben nur anhand alter Testamente und Grundbucheintragungen. Und die Bürger seien froh, wenn dann im Gardeleger Archiv noch alles zu finden ist.

Finden kann man dort indes längst nicht nur Testamente oder Grundbuchauszüge. Auch Verträge sind dort archiviert.

Aus denen kann man dann zum Beispiel erfahren, dass im Mai 1938 ein Lindstedter Bauer zwei Parzellen seines Hemstedter Ackers, „daselbst von 1,5 Hektar“ für „700 Reichsmark“ verkaufte. Und die Ernte gleich mit. Auch das ist penibel protokolliert und „durch zwei Reichsmark Urkundensteuer in Marken entwertet“ worden.

Ein Lindstedter Friseur wiederum bestätigt in einem notariell beglaubigten Vertrag, dass er ebenfalls im Mai desselben Jahres „vom Lindstedter Bäckermeister (...) ein bares Darlehen von 1000 Reichsmark“ erhalten hat, die er nun mit Zinsen, nämlich „jährlich fünf von hundert“, zurückzahlen werde. Ein Satz, von dem heute alle Banken nur träumen können.

Zum Träumen haben die vier Frauen im Keller derzeit natürlich keine Zeit. Schließlich wollen sie ja auch mal fertig werden mit dem Aufräumen. Dennoch sucht Dorothee Heuer noch schnell einen Ordner mit einem ganz anderen Kapitel unserer Vergangenheit heraus – ein trauriges. Denn auch zahllose Todeserklärungen lagern dort in den Regalen des Archives. Zumeist wurden sie in den Jahren nach dem Ersten oder Zweiten Weltkrieg verfasst. Viele Soldaten, die nicht nach Hause gekommen waren, wurden damals für tot erklärt. So stellte die Ehefrau des Gardeleger Arbeiters Gerhard R., geboren 1919, im Jahre 1946 den Antrag, ihren Mann für tot zu erklären. Schriftlich hatte sie damals nur die Mitteilung seiner Einheit, dass er vermisst wurde. Doch „ein Kamerad“ hatte ihr dann berichtet, dass ihr Mann später „in einem Lazarett, im Wald, sieben Kilometer vor Minsk an Diarrhoe gestorben“ sei.

Und seine Zeugenaussage führte dann schließlich auch erst zum Beschluss, ihren Mann für tot zu erklären. „Nur durch die Todeserklärung konnte sie seine Angelegenheiten schließlich auch regeln“, erklärt Dorothee Heuer.

Das Leben und der Tod – auch im Keller des Gardeleger Amtsgerichtes liegen sie eben ganz dicht beieinander. Genau wie in der Realität.