1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Gardelegen
  6. >
  7. Der Stabstrompeter der Ulanen

Rätsel Der Stabstrompeter der Ulanen

In der Serie „Einst geschrieben - Neu entdeckt“ stellt die Volksstimme handgeschriebene Schriftstücke vor.

Von Alexander Rekow 24.12.2018, 02:00

Salzwedel l 1917: Die Oktoberrevolution ist in aller Munde, die USA greift in den Ersten Weltkrieg ein, der erste Aufklärungsfilm flimmert über die Leinwände, Torball heißt fortan Handball, John F. Kennedy und Heinrich Böll werden geboren, während Buffalo Bill und Ferdinand Graf von Zeppelin ihre Augen für immer schließen.

Trotz vieler weltpolitischer Ereignisse und Katastrophen, rückt im Dezember das Weihnachtsfest in den Fokus vieler Menschen, auch der Soldaten. Das zeigt unser letztes Schrifträtsel für das Jahr 2018. Doch was stand dort geschrieben? Stadtarchivar Steffen Langusch übersetzt den „Weihnachtsbrief“ wie folgt:

Hocherfreut über das mir liebenswürdigst übersandte Weihnachtspaket, gestatte ich mir, dem Wohllöblichen Magistrat der Stadt Salzwedel allerherzlichsten Dank für das freundliche Gedenken zu übermitteln. - Kurz vor Eintreffen des Paketes saßen 3 Salzwedeler in meinem Waldhäuschen beieinander und plauderten von den schönen Weihnachtsbräuchen unserer lieben Stadt nämlich: Leutnant Kredel, Res.[erve] Inf.[anterie] R[e]g[imen]t. 217 (Sohn vom Lehrer Kredel), Unteroffizier und Offiziers-Aspirant Hans Ball, Feldart[il]l.[erie-Regiment] 241 (mein Sohn) und ich.

Zum Zeichen, daß auch hier draußen Wohltätigkeit im Verein mit der schönen musikalischen Kunst gepflegt wird, gestatte ich mir, beiliegendes Progr.[amm] anzufügen.

 

Mit vorzüglichster Hochachtung und mit Weihnachtsgruß C.[arl] Ball, Königl.[icher] Musikdirektor Inf.[anterie]-R[e]g[imen]t. 60.“

Bei der angegebenen Ortsmarke „Côte Lorrain“ handelt es sich vermutlich um ein Waldgebiet in der Umgebung des Ortes Verdun, schätzt Steffen Langusch. Der Kampf um Verdun war eine der grausamsten und verlustreichsten Schlachten des Ersten Weltkrieges an der Westfront zwischen Deutschland und Frankreich. Ob sich der königliche Musikdirektor Ball nun genau dort aufhielt, ist nicht 100-prozentig zu belegen. Was aber feststeht ist, dass erwähnter Leutnant Kredel seine Wurzeln in Salzwedel hat. Sein Vater Lehrer Kredel war in Salzwedel eine Lokalgröße und den Einwohnern als „Plattschnacker“ bekannt. Sein Sohn Ernst, sprich der Leutnant aus dem Brief, war nach dem Ersten Weltkrieg im Zweiten Weltkrieg Mitglied einer Propagandakompanie der Luftwaffe, lebte anschließend in Bremen und wirkte auch dort noch für die Luftfahrt.

Doch wer war dieser Carl Ball, der Verfasser des Weihnachtsbriefes, der dem Magistrat auch seine Weihnachtsgrüße übermittelte? „Carl Ball war ab April 1905, nach dem Tod von Wilhelm Bromme, Stabstrompeter. Das heißt, er war Leiter der Kapelle des Ulanen-Regiments in Salzwedel“, weiß der Stadtarchivar. Carl Ball scheint bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs in Salzwedel tätig gewesen zu sein. Das ergibt sich daraus, dass im August 1913 noch eine Komposition von ihm erwähnt wurde. Als die Ulanen nach dem Ersten Weltkrieg Salzwedel den Rücken kehrten, war Ball bereits nicht mehr da.

Carl Ball sollte Jahre später aber erneut in den Fokus rücken. „1928 veröffentlichte er im ‚Karl-May-Jahrbuch‘ unter dem Titel ‚Harfenklänge zu Babel und Bibel‘ Erinnerungen an Karl May, den er selbst kennengelernt hatte, nachdem er zuvor über seinen kurzen Aufenthalt in Salzwedel anlässlich seiner Recherchen im Wendland in der Umgebung von Gartow im Mai 1898 unterwegs war“, erklärt Steffen Langusch. Für manch Altmärker dürfte die Tatsache, dass der Schöpfer von Winnetou in unseren Breitengraden unterwegs war, eine interessante Neuigkeit sein. Doch das ist noch nicht alles. Denn: „Im Karl-May-Jahrbuch wird Carl Ball als ‚Kriminalkommissar in Frankfurt am Main, früher Militärkapellmeister in Dessau‘ vorgestellt“, sagt Steffen Langusch und fügt hinzu: „Er muss aber wohl auch in Frankfurt als Leiter einer größeren Polizeikapelle tätig gewesen sein, denn er konnte 1931 sein 30-Jähriges als Militärkapellmeister feiern.“

Nun aber zurück zum Dezember 1917 und den Brief. Weihnachtsbriefe und -karten stellten seinerzeit für die Soldaten einen wichtigen Kontakt zur Familie in die Heimat dar. Das zeigen auch Karten aus dem Stadtarchiv. In dem „Weihnachtsbrief“ von unserem Verfasser Carl Ball bedankt er sich für das Weihnachtspaket und schrieb, wie er mit Salzwedelern über Weihnachtsbräuche plauderte. Zu diesen Bräuchen gehört in erster Linie das beliebte Turmblasen, bei dem Weihnachtslieder vom Turm für die Einwohner gespielt werden. Und das seit mindestens 1875! Denn in jenem Jahr wird es als wieder eingeführte Tradition erwähnt, berichtet Steffen Langusch.

Doch nicht nur das Turmblasen ist für die Salzwedeler eine Tradition, zu der nicht selten Hunderte Einwohner am Rathausturm zusammen kommen. Auch der Weihnachtsbaum an zentraler Stelle ist den Salzwedelern ein vertrautes Bild zur besinnlichen Zeit. Doch woher kommt der Brauch? Dazu stöberte der Stadtarchivar in alten Zeitungen und wurde 1929 im „Salzwedeler Wochenblatt“ fündig. Dort heißt es im Wortlaut: „Seit einer Reihe von Jahren hat sich in Mitteldeutschland die Sitte des Weihnachtsbaums für alle ausgebreitet. Heute hat fast jede größere und kleinere Stadt unserer Heimat ihren Baum für alle. Ursprünglich stammt die Sitte aus Amerika, wo schon im Jahre 1912 zum ersten Mal ein Christbaum für alle aufgestellt wurde, und zwar in New York. Seitdem hat der Weihnachtsbaum für alle einen ungeahnten Siegeszug angetreten. Dabei ist freilich zu bemerken, daß es Weihnachtsbäume für alle in anderer Form schon immer gegeben hat. Jedes mitteldeutsche Dorf hat am Heiligabend einen Tannenbaum in der Kirche, der schon immer dort gestanden hat und ja doch auch ein Baum für alle ist.“ Somit ist festzuhalten, dass also auch vor 90 Jahren die Salzwedeler am Weihnachtsbaum zusammen kamen. „Ein Weihnachtsbaum für alle“, titelte die Zeitung seinerzeit. Auch ein altes Foto beweist die Tradition. Denn in der „Salzwedel-Gardeleger Zeitung“ vor exakt 87 Jahren wurde ein Weihnachtsbaum am Rathausturm abgelichtet. Weniger Freude mit beleuchteten Weihnachtsbäumen hatten die Menschen 1943 und 1944, erklärt Steffen Langusch. Denn zu jener Zeit war wegen Verdunklungsvorschriften das Schmücken mit Kerzen verboten. Ausschließlich Glaskugeln und Lametta fanden den Weg an den Christbaum.

Doch nicht nur ihr Turmblasen und ihren Weihnachtsbaum am Rathausturmplatz schätzen die Salzwedeler seit vielen Jahrzehnten. Auch der Weihnachtsmarkt läutet seit längerem die Adventszeit ein – auch wenn diese Tradition nicht so weit zurück reicht. Wie der Stadtarchivar berichtet, finden sich 1978 erste verwertbare Belege. „Damals wurde durch die Abteilung ‚Handel und Versorgung‘ des Rates der Stadt vom 9. bis 17. Dezember ein Weihnachtsmarkt am Rathausturm organisiert. Die Akte reicht von 1978 bis 1984. In diesem Zeitraum lässt sich also ein Weihnachtsmarkt in Salzwedel vermuten. Allerdings hat die Zeitung (jedenfalls 1978) nur beiläufig darüber berichtet“, erläutert Steffen Langusch.

Er hat einen Beleg, weshalb er die Traditionen wie folgt einordnet: In den „Jugenderinnerungen eines alten Salzwedelers“ von Otto Schwarz um 1880 herum wird zwar das Turmblasen erwähnt, aber nicht der „Weihnachtsbaum für alle“ oder gar ein „Salzwedeler Weihnachtsmarkt“.

Die Beteiligung an der 6. Schrifträtsel-Auflage war wieder enorm. Karin Schäfer aus Wistedt schreibt, dass sie die Sütterlinschrift von ihrem Vater gelernt habe. „Bevor wir tapezierten, schrieben wir die alte Tapete mit den Buchstaben voll, bis ich es konnte. Bei der Arbeit im Stadtarchiv kam mir mein Erlerntes zugute“, berichtet sie. Über den im Brief erwähnten Ernst Kredel jun. weiß sie, dass dieser später Offizier war, über Luftgeschichte und Handelsluftfahrt geschrieben, aber auch militärische Aufsätze verfasst hat. Er sei sehr alt geworden. K. Zander aus Klötze erinnerte sich beim Lösen des Rätsels an ihren Großvater (Jahrgang 1893), der ihr und ihrer Schwester die Schrift beigebracht habe. Kerstin Benecke aus Mehrin lobte, dass Herr Ball „eine sehr schöne Schrift“ hatte. Gisela Thunecke aus Lindstedt holte sich beim Entziffern Unterstützung von ihrer Nachbarin Irmchen Lucas (94), Sabine Müller aus Oebisfelde von ihrem Mann. Karin Pott aus Jerchel kam zugute, dass sie das Glück hatte, von ihrer Oma (Jahrgang 1901) die deutsche Schrift etwas gelernt zu haben.

Richtig gelegen haben auch: Käte Alt, Christel Appelt, Waltraud Winkler, Waltraud Hilse, Uta Thiel, Roswitha Widlitzki, Margret Ritter, Jürgen Schnerk, H. und I. Lange, Monika Oblinger, Christian Schramm, Brigitte Schmidt, Peter Rieper (alle Salzwedel), Ingo Fölsch (Bombeck), Giesela Niemeyer (Güssefeld), Angela Lenz (Stappenbeck), Wolfgang Pludra, Joachim Spröggel (beide Beetzendorf), Christa Harms (Wendischbrome), Käthe Lüdecke (Jävenitz), Fred Jäger, Dieter Kusian (beide Gardelegen), Margrit Flaack (Wallstawe), Christian Pistorius (Schrampe), Friedrich Wilhelm Gille (Wiepke), Reinhild Kretzschmann (Roxförde) und Bianca Rode (Diesdorf).

Nun wissen Sie mehr über die Salzwedeler Traditionen an Weihnachten und können Ihr Wissen heute beim Turmblasen am Rathausturmplatz, das um 18 Uhr beginnt, mit Freunden teilen. Wir möchten uns bei Ihnen fürs Mitmachen bedanken. Es hat uns viel Freude bereitet, für Sie Schriftstücke aus dem Archiv auszuwählen und diese bei den Auflösungen mit Geschichten zu umrahmen.

Wir wünschen uns, dass Sie uns auch 2019 treu bleiben, wenn es wieder heißt: „Was steht denn hier geschrieben?“ Wir wünschen Ihnen und Ihrer Familie ein besinnliches Weihnachtsfest.