Trauer Seit Leon tot ist ...

Vor vier Jahren änderte sich das Leben einer Familie in Kloster Neuendorf grundlegend: Der sechsjährige Leon-Jeremy verunglückte tödlich.

Von Gesine Biermann 29.09.2018, 12:00

Gardelegen l Wer sie besucht, im gemütlichen Esszimmer Platz nimmt, kann den Blick gar nicht abwenden von der tollen Fotowand. „Das sind Momente, die man immer in der Erinnerung behält“, steht auf einem Wandtattoo. Ein Hochzeitsbild mit strahlenden Eltern hängt darunter in der Mitte. Rund herum sind die Fotos der Kinder aufgereiht. Acht stramme Jungs. Und unter jedem steht das Geburtsdatum.

Eines der Bilder allerdings ist nicht farbig, sondern schwarz-weiß. Unter dem Foto mit dem hübschen kleinen Jungen im Spiderman-T-Shirt stehen zudem zwei Daten. Denn am 29. September 2014 war das Leben von Leon-Jeremy zu Ende. Beim Überqueren der Bundesstraße zwischen Gardelegen und Kloster Neuendorf, auf Höhe der Bushaltestelle, an der die Kinder morgens auf den Schulbus warten mussten, war Leon von einem Auto erfasst worden.

„Er war innerhalb von wenigen Sekunden tot“, erzählt sein Papa, Sven Röhrs. Es ist ein winziger Trost. Etwas, an dem er sich bis heute noch ein bisschen festhalten kann. „Gesagt hat mir das damals der Rettungssanitäter vor Ort.“ Von anderer Stelle sei nämlich nie eine Erklärung gekommen. Keine Mitteilung über die Todesursache, und auch kein Hinweis auf den Termin der Gerichtsverhandlung gegen den Unfallfahrer. „Er ist dann freigesprochen worden“, sagt Röhrs. Er durfte dort 100 Stundenkilometer fahren. „Der Richter hat gesagt: Das ist, wie wenn Ihnen ein Reh vors Auto läuft.“ Da trage auch niemand die Schuld.

Und doch: „Wir hätten gern gewusst, wer er war“, sagt er. „Meine Frau hätte ihm gern geschrieben. Nicht böse, aber sie hätte ihn gern gefragt, warum er sich nie bei uns gemeldet hat...“ Nicht mit einem Wort des Bedauerns.

Dass auch andere Informationen nie zu ihnen gelangt sind, bedauert Röhrs ebenfalls: „Wir wissen bis heute nicht, wer ihm erste Hilfe geleistet hat.“ Bei dem Mann, nach seiner Erinnerung der Fahrer eines schwarzen Mercedes, hätte er sich nämlich gern bedankt. Auch wenn er nichts mehr ausrichten konnte.

Der Moment, als Dustin, sein Drittältester an diesem Montagmorgen in die Wohnung gestürzt kommt, mit den Worten: „Papa, komm ganz schnell, Leon atmet nicht mehr“, hat sich ganz tief eingegraben in seine Erinnerung. „Ich habe sofort geahnt, was passiert war“, sagt Sven Röhrs.

Später erfährt er von Dustin, wie sich der Unfall zugetragen hatte. Nachdem ihn ein anderes Kind auf die gegenüberliegende Straßenseite gerufen habe – „Er hatte einen Laserpointer, und sie wollten den Punkt fangen“ – will Leon wohl schnell wieder zurück auf die richtige Seite.

Im falschen Augenblick ...

Es ist sein großer Bruder, der ihn danach von der Straße trägt. Dustin ist damals zwölf. Bis heute kämpft er mit den Erinnerungen, genau wie seine Eltern und seine Geschwister.

Neben Dustin sind es besonders Connor und Paule, die Leon am nächsten standen. „Paule war zwei. Er hat vorher schon so schön gesprochen und danach fast ein Jahr lang kein Wort mehr gesagt“, erzählt Sven Röhrs.

Seine Frau Nicole habe rund zwei Jahre gebraucht, um den Kummer auch nur annähernd zu verarbeiten. Und das habe sie nur mit ärztlicher Hilfe geschafft. Auch mit einigen ihrer Söhne müssen die Eltern zu Psychologen gehen. Und er selbst habe ebenfalls einige Sitzungen besucht, sagt er unumwunden.

Sven Röhrs findet nach dem Unfall aber noch eine andere Art, das Ganze zu verarbeiten: Er setzt sich dafür ein, dass die Öffentlichkeit von der gefährlichen Situation an der Schulbuswartestelle erfährt. Er schreibt Briefe ans Landes-und Bundesverkehrsministerium und sogar ans Fernsehen. Ein TV-Team kommt nach Gardelegen, interviewt ihn und andere Eltern. „Eine Moderatorin ist damals mit der Stoppuhr über den Fußgängerweg gegangen und hat festgestellt, dass nicht einmal ein Erwachsener es schafft, in sieben Sekunden bei Grün über die Straße zu gehen...“

Das Problem sei schließlich als erstes behoben worden, erzählt Röhrs. Schon nach wenigen Tagen sei die Grünphase der Bedarfsampel verlängert worden. Auf eigene Verantwortung habe der damalige Bürgermeister Konrad Fuchs dann sogar angeordnet, dass Schilder mit einer Geschwindigkeitsbegrenzung aufgestellt werden, weil die Verkehrsbehörde so lange brauchte.

Der starke Sog, der Passanten auf dem Fußgängerweg erfasst, wenn ein Lkw vorbeifährt, lässt sich allerdings nicht so einfach abstellen. Doch auch hier gibt es bald eine Lösung: Das Landesbauministerium teilt ihm schließlich mit, dass eine Buswendeschleife gebaut werden soll, mit der die Haltestelle in die sichere Seitenstraße verlegt wird. Am 18. Januar 2017 wird sie eingeweiht. „Ich war auch dabei, sagt Röhrs, „es ist gut, dass die Kinder jetzt sicher sind.“ Er habe auch ein paar Worte sagen sollen. „Aber das konnte ich nicht. Für uns waren das zweieinhalb sehr lange Jahre.“

In denen hat die Familie übrigens auch nach einer neuen Wohnung gesucht. „Jeden Tag an der Unfallstelle vorbei“, das sei zu hart gewesen. Und die Kinder sollten auch nicht mehr mit dem Rad von den Kellerbergen aus in die Stadt fahren müssen. Mittlerweile haben sie ein neues Heim gefunden: ein Doppelhaus in Gardelegen. Zwar ohne Garten, aber dafür mit viel Platz für alle sieben Jungs.

Mit der Geburt von Fridericus-Finley im Oktober 2016 sind es nämlich wieder sieben. Die Geburt des Jüngsten habe seiner Frau sehr gut getan, sagt der ebenso stolze Papa. Und natürlich wird der Kleine von allen verwöhnt. Es gibt also auch Gründe, um dankbar zu sein. Dazu zählt auch eine besondere Freundschaft: Claudia und Felix, ein junges Paar aus Wiepke, hatten Nicole Röhrs nach dem Unfall in der ersten Zeit monatelang morgens zu ihrer Arbeit als Altenpflegerin gefahren und sie auch wieder abgeholt, weil sie sich nicht ins Auto setzen konnte. Dankbar sind Röhrs auch Renate von Kleist: Die Schulleiterin von Leon hatte sich darum gekümmert, dass die Unfallkasse einen Teil der Beerdigungskosten übernahm.

Weit über 100 Menschen waren damals gekommen. Eine gute Erfahrung – auch wenn sich mancher seither nicht mehr hat sehen lassen, sagt Röhrs enttäuscht. „Aber sie wussten vielleicht nicht, wie sie mit uns umgehen sollen.“ Manchmal fehlen Menschen wohl die Worte. Dem, der ab und zu das Grab von Leon harkt, geht es möglicherweise genau so. „Wir wissen nicht, wer das ist“, sagt Sven Röhrs. Aber solche Gesten sind es, die die Familie wieder Stück für Stück ins Leben zurückholt ...