1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Genthin
  6. >
  7. Ein Durchblicker ohne Augenlicht

Praktikum Ein Durchblicker ohne Augenlicht

Taststock und ein Vergrößerungsprogramm gehören zum Handwerkszeug des Genthiner Praktikanten Dominik Flügge.

Von Natalie Häuser 26.01.2016, 06:00

Genthin l Kopfhörer auf, ran an die Tastatur und Dominik Flügge kann mit seiner Arbeit beginnen. Normalerweise wäre der 20-Jährige, der ursprünglich aus Güsen stammt, unter der Woche in Chemnitz. Dort macht er derzeit im Berufsbildungswerk für Blinde und Sehbehinderte des Sehförderungszentrums eine zweijährige Ausbildung zur Servicekraft für Dialogmarketing. Seit Kurzem ist er für ein achtwöchiges Praktikum in der Kreisbibliothek eingesetzt. Die Ausbildung ist für den offenen jungen Mann nicht vordergründig wegen seiner Sehbehinderung eine Herausforderung.

Nach einer Hornhautentzündung im Alter von gerade mal einem halben Jahr blieben ihm gerade 2,5 Prozent Sehkraft auf dem linken und vier Prozent auf dem rechten Auge. Anhand seiner Bewegungen würde man jedoch nicht vermuten, dass der Praktikant fast blind ist. Er läuft mit seinem Taststock genauso sicher durch die Regalreihen wie jeder andere Bibliotheksmitarbeiter. Obwohl er ihn erst seit gut zwei Jahren benutzt. „In meiner bekannten Umgebung habe ich ihn bisher nicht gebraucht. Erst als es nach Chemnitz zur Berufsvorbereitung ging.“ Die „Stadt der Moderne“ gefällt dem Sachsen-Anhalter recht gut. So sehr, dass er sich selbst dabei erwischt zu sächseln, was er aber überhaupt nicht schlimm findet.

Die Arbeit ohne einen speziell für Sehbehinderte eingerichteten Arbeitsplatz ist für Dominik kein Problem. Er nutzt ein Vergrößerungsprogramm mit Sprachausgabe. „Wir hatten einst einen eigens eingerichteten Arbeitsplatz für Blinde- und Sehbehinderte“, sagt Bibliotheksleiterin Gabriele Herrmann. Dieser hat sich aufgrund einer zu geringen Nachfrage nicht rentiert. Im Bestand der Kreisbibliothek finden sich aber Bücher mit Großdruckschrift zur Ausleihe. Und Werke in Brailleschrift sind über die Fernleihe bestellbar, so Herrmann. Ein bisschen schauspielern gehört dazu und ein offenes Ohr zu haben, beschreibt der junge Mann grundlegende Fertigkeiten im Berufsalltag mit Kunden. Besonders schwierig findet er es, mit Reklamationen umzugehen. „Da muss man sehr geduldig bleiben.“ Nach einer Hauptschulausbildung in Tangerhütte ging der 20-Jährige für eine Berufsvorbereitung nach Chemnitz, dann folgte der Beginn der Ausbildung.

Ziel seines Praktikums in Genthin ist es, den Ablauf kaufmännischer Sachverhalte zu festigen. Derzeit ist die Recherche eine seiner Hauptaufgaben. So hat er sich beispielsweise schon mit der Besucherzählung der Bibliothek beschäftigt. Die gesammelten Daten werden elektronisch erfasst. Nach der Ausbildung hat er die Möglichkeit im Bereich Beratung, bei Hotlines, Auskunftsdiensten oder im Telefonvertrieb mit verschiedenen Kommunikationsmedien Anfragen, Aufträge und Reklamationen zu bearbeiten. „Beispielsweise könnte ich bei den Volksstimme-Lesern anrufen und sie fragen, ob bestimmte beigelegte Werbeprospekte bei ihnen im Briefkasten gelandet sind“, beschreibt der junge Mann einen möglichen Arbeitsvorgang.

Im Umgang mit seinen Mitmenschen ist Dominik über die Jahre gelassener geworden. Manchmal höre er Kinder so etwas sagen wie „Guck mal, da kommt ein Blindgänger“. Ihnen ist er schon lange nicht mehr böse. Manchmal wünschte er sich dennoch, dass sich Menschen einfach mal in seine Lage versetzen und mit geschlossenen Augen und Taststock eine Strecke laufen. „Da hatte ich mal ein lustiges Erlebnis mit meinem Freund“, erinnert sich der Auszubildende. Dieser wollte sich einfach mal fühlen wie Dominik und wurde prompt von einem Senioren behutsam über die Straße geführt. Neben seiner Berufsausbildung ist Dominik politisch interessiert. Passend zur ehemaligen Karl-Marx-Stadt hat er gerade „Das Manifest der kommunistischen Partei“ von Friedrich Engels und Karl Marx gelesen. „Und ‚Das Kapital‘ kommt als nächstes dran.“ Bevor es wieder an die Arbeit geht, gibt es noch ein bisschen Smalltalk mit zwei jungen Flüchtlingen, die gerade in der Bibliothek angekommen sind.