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110 Jahre Fachkrankenhaus Jerichow: enorme Entwicklung in der jüngsten Zeit zu immer modernerer Klinik In einem Jahrzehnt 20 Jahre "jünger" geworden

Von Sigrun Tausche 30.11.2012, 02:18

Mit einem Festakt im Saal des Therapiezentrums und zahlreichen Präsentationen wurde das 110-jährige Bestehen des Fachkrankenhauses Jerichow gefeiert. Gerade mal ein Jahrzehnt liegt das 100. Jubiläum zurück, jedoch hat sich so viel verändert seitdem, dass es mehr als gerechtfertigt war, erneut zu feiern.

Jerichow lDas Haus, in dem die Veranstaltung stattfand, ist nur eines von denen, die vor einem Jahrzehnt noch ganz anders aussahen. Unsaniert und ungenutzt war das einst so schöne Kulturhaus. Heute ist es modernes Therapiezentrum, in dessen Saal Wolfgang Schuth, Geschäftsführer der AWO Krankenhausbetriebsgesellschaft, viele Mitarbeiter und Gäste begrüßte.

Zu den Gästen gehörte Dr. Dr. Reinhard Nehring, Abteilungsleiter im Ministerium für Arbeit und Soziales. Er sei Anfang der 90er Jahre für die psychiatrischen Einrichtungen zuständig gewesen und habe die ganzen Veränderungen damals mitbekommen, berichtete er. In Jerichow war er lange nicht mehr und habe sich nun sehr gefreut, wie sich hier alles entwickelt hat. "Psychiatrie ist ein aktuelles Thema. Es sind immer mehr Behandlungen notwendig. Elf Prozent aller Krankenhauskosten in Sachsen-Anhalt gehen an psychiatrische Einrichtungen!" Er blickte in die Geschichte, aber auch in die Zukunft: "Wir müssen uns der Frage der Prävention psychischer Erkrankungen zuwenden."

38,8 Millionen Euro vom Land und aus Kassenbeiträgen

Dem Team in Jerichow dankte Dr. Nehring für die gute Arbeit, die hier geleistet werde. Er erwähnte aber auch die beachtliche Unterstützung durch das Land: Insgesamt 38,8 Millionen Euro seien in Sanierung und Baumaßnahmen in Jerichow geflossen, zum Teil aus Krankenkassenbeiträgen. Acht Häuser seien umgebaut worden, Haus 6 mit Physiotherapie wurde ganz neu errichtet, für Haus 8 und 13 liegen die Mittel bereit. "Nur für Haus 12 müssen wir noch eine Lösung finden, und das muss schnell geschehen, weil nur noch bis 2014 solche Mittel zur Verfügung stehen."

Stellvertretend für den Landrat war Vorstandsmitglied Bernhard Braun gekommen. Er nahm den trüben Novembertag zum Aufhänger: "Die Gebäude waren früher alles andere als geeignet, besonders, wenn Patienten depressiv waren. Man kann nur froh sein, dass es sich so entwickelt hat." Viele Menschen geraten heute in Lebenssituationen - beschrieben mit dem Begriff Burnout - wo Hilfe wichtiger denn je sei, betonte er.

Braun unterstrich aber auch, dass das Krankenhaus ein erheblicher Wirtschaftsfaktor sei, besonders hier in der dünn besiedelten Region.

"Nicht zehn Jahre älter, sondern 20 Jahre jünger ist unser Geburtstagskind geworden", bezog sich Jerichows Bürgermeister Harald Bothe auf die Entwicklung seit dem 100. und würdigte dies mit einem Kompliment: "Hier wird Stroh zu Gold gesponnen!" Er hoffe, sagte er, "dass wir unsere Landespolitiker auch zukünftig für uns gewinnen können."

Einen Überblick über die Geschichte des Fachkrankenhauses mit besonderem Augenmerk auf die letzten zehn Jahre gab Verwaltungsleiterin Ursula Bauer (siehe Info-Kasten). Nur kurz riss sie die frühere Entwicklung an: Bis 1927 war der Bau der Häuser im Wesentlichen abgeschlossen, bis 1936 vollzog sich die Entwicklung vom Landesasyl zur Landesheilanstalt unter Leitung von Dr. Johannes Lange. Nach 1945 gab es hier ein Hilfskrankenhaus, ein Lazarett, ein sowjetisches Militärhospital, eine Lungenheilstätte und schließlich ein Fachkrankenhaus für Psychiatrie und Neurologie.

Auf die dunklen Jahre, in denen die Klinik Anteil am T4-Programm der Nazis hatte, und die Aufarbeitung dieser Zeit in den vergangenen Jahren hatte Wolfgang Schuth bereits hingewiesen.

Ab 1990 war die Einrichtung zunächst Fachkrankenhaus für Psychiatrie, Neurologie und Pulmologie in Regie des Landkreises, dann des Landes und ab 1996 des AWO Landesverbands.

Ärztlicher Leiter Joachim Müller ergänzte den Überblick über die Entwicklung noch um viel Inhaltliches. Die Zahl der Fachärzte sei gestiegen und um Fachgebiete erweitert worden, aber es seien noch immer nicht genug Ärzte. Die Tagesklinik sei bereits an die Grenzen ihrer Kapazität gelangt. Neue Therapien wurden aufgenommen, eine Testzentrale für gezielte Diagnostik und Verlaufskontrolle wurde aufgebaut, wie es in Sachsen-Anhalt keine vergleichbare gebe - und noch einiges mehr.

Dr. Petra Zacke, Chefärztin der Neurologie, stellte die Probleme des neuen Abrechnungssystems der Kassen dar, welches in ihrer Abteilung seit 2005 bereits wirksam sei: Die durchschnittliche Verweildauer der Patienten habe sich von 14 auf unter neun Tage verkürzt. "Das bedeutet, dass sich die Arbeit am Patienten erheblich verdichtet hat. Die Diagnostik muss in weniger Zeit erfolgen."

Über sein Fachgebiet der Psychosomatischen Medizin sprach Chefarzt Dr. Hans-Werner Lutteroth. Er erinnerte auch an ein "verpasstes" Jubiläum: Vor gut 50 Jahren sei hier im Hause von Dr. Winkelmann die Psychotherapie etabliert worden.

Akzeptanz psychischer Erkrankungen fällt schwer

Zur Situation in der Gesellschaft sagte Lutteroth: "Die Akzeptanz psychischer Erkrankungen fällt schwer, weil vielfach eine Abwehr dagegen vorhanden ist." Zum Glück gehe die Entwicklung in die richtige Richtung, fügte er an.

Zum Abschluss sprach Pflegedienstleiterin Karola Lehmann. Die Pflege sei die größte Berufsgruppe im Hause, betonte sie. Im Laufe der Entwicklung sei eine Vielzahl neuer Arbeitsfelder dazu gekommen. Das Bild der Pflege habe sich stark gewandelt. Fortbildungen seien immer wieder notwendig. Wegen der veränderten Rahmenbedingungen, insbesondere der geringeren Verweildauer der Patienten, habe die Belastung zugenommen.

Mit einem Blick in die Zukunft beendete Chefarzt Müller den Festakt: Mit der Einführung des neuen Entgeltsystems werde es schwer werden, das breite Angebot aufrecht zu erhalten, befürchtet er. Im Blick haben müsse man weiterhin die demografische Entwicklung: Der geronto-psychiatrische Bereich müsse ausgeweitet werden. Auch die tagesklinischen und ambulanten Angebote sollen ausgeweitet werden, und dafür sei das bisher noch unsanierte Haus 12 bestens geeignet.

Und man werde "Augen und Ohren offen halten, um weitere therapeutische Möglichkeiten anbieten zu können."