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Corona-Krise Harzer sehen Mehrwertsteuer-Senkung kritisch

Um den Konsum anzukurbeln, hat die Bundesregierung die Mehrwertsteuer vorübergehend gesenkt. Kaufen Harzer deshalb wirklich mehr?

Von Sabine Scholz 22.07.2020, 01:01

Dardesheim/Halberstadt/Wernigerode l Viel Spielraum bei den Preisen bleibt Julia Eitze-Klapproth, Inhaberin der Dardesheimer Tankstelle, nicht. Die für Benzin werden zentral von der Kette HEM vorgegeben, berichtet die Wernigeröderin. Und auch die Preise für Waren wie Zigaretten und Zeitschriften seien fix.

Wie sieht es im zur Tankstelle gehörenden Bistro aus, in dem Snacks und frisch gekochte Mittagsgerichte angeboten werden? „Wir haben das mal ausgerechnet. Die Ersparnis für den Kunden würde bei etwa zehn, zwölf Cent pro Gericht liegen“, so Julia Eitze-Klapp-roth. „Aber die können wir nicht an den Kunden weitergeben, im Gegenteil.“ Eigentlich, so berichtet sie, müsste sie die Preise sogar anheben. „Seit der Krise haben viele Lieferanten ihre Preise angehoben“, erläutert sie. Dennoch sollen die Speisen nicht teurer werden, verspricht die 39-Jährige.

Die Bäcker in der Region seien sich einig, sagt Eva Kilian. „95 Prozent meiner Kollegen reichen die Steuersenkung nicht an den Kunden weiter.“ Die Geschäftsführerin der Halberstädter Bäcker und Konditoren GmbH erklärt auch, weshalb.

Bei einem Brötchen mache die Steuersenkung nicht mal einen Cent aus. „Und kein Kunde kauft zwei Brote, weil er bei einem ein paar Cent spart“, so die Geschäftsführerin. Das Unternehmen hat die Kunden darüber informiert, dass man die Steuersenkung nicht weitergebe, sondern dafür nutze, die Mehrkosten durch die Corona-Auflagen abzumildern. „Wir müssen mehr Desinfektionsmittel kaufen als vorher, dürfen Cafébereiche gar nicht oder nur mit deutlich reduzierten Plätzen öffnen, haben Spuckschutz installiert und vieles mehr.

Die Kunden zeigen Verständnis, dass sich der Aufwand der Umstellung für ein halbes Jahr Steuersenkung nicht lohnt. Wir müssten jetzt die Kassensysteme umstellen, zum 1.1. dann nochmal.“ Was das kosten kann, zeigt eine andere Anforderung, der das 136 Mitarbeiter beschäftigende Unternehmen entsprechen muss. „Für die Finanzsicherheitsverordnung sind alle Kassen umzurüsten, das kostet 300 bis 500 Euro. Pro Kasse.“

Bislang gab es weder bei ihr noch in den 28 Filialen Beschwerden darüber, dass man die Mehrwertsteuersenkung nicht weitergebe. „Die Kunden haben ohnehin ihr Kaufverhalten verändert. Sie kommen seltener. Wahrscheinlich macht ihnen das Einkaufen mit Maske wenig Spaß“, mutmaßt Eva Kilian. Bei anderen Dienstleistungen oder Waren lohne sich die Reduzierung des Steuersatzes vermutlich eher. „Autos oder hochwertige Kleidung, da könnte tatsächlich ein Anreiz bestehen, jetzt zu kaufen und nicht erst nächstes Jahr.“

Ähnlich schätzt auch Katrin Bienek die Situation ein. In ihrem Edeka-Markt werde bereits seit dem 29. Juni die Steuersenkung 1:1 an den Kunden weitergegeben, aber eine Konsum-Ankurbelung sieht auch die Kauffrau nicht. „Wir haben für alle Artikel die Preisetiketten an den Regalen ausgetauscht, 25 000 Stück – das kostet viel Zeit und Arbeitskraft. Aber wir halten dieses Vorgehen für den Kunden für transparenter als erst an der Kasse den niedrigeren Steuersatz auszuweisen“, sagt die Halberstädterin.

Mit Blick auf die Änderung der Änderung zum 1. Januar graut ihr ein bisschen, liegen doch Weihnachtstage und Silvester vor dem Stichtag. Zeiten, an denen ohnehin extrem viel zu tun sei für ihre 82 Mitarbeiter im Markt. Doch zum 2. Januar müssen die Produkte wieder neu ausgepreist sein. Lediglich Zigaretten, Telefonkarten, Bücher und ähnliches seien ausgeschlossen, für die ändere sich aufgrund der geltenden Preisbindung der Steuersatz nicht. Zum Glück bereite die Kassenumstellung kein Problem, das laufe über die Konzernzentrale per Datenfernübertragung.

Mehr Kunden kämen in die Supermärkte wegen der Steuersenkung nicht. „Da wäre es sinnvoller gewesen, allen eine Bonus zu zahlen, die im Niedriglohnsektor arbeiten“, sagt Bienek. Eine ähnliche Anregung hatte Eva Kilian. „Wenn man für alle Arbeitnehmer den Beitrag zur Sozialversicherung um ein Prozent gesenkt hätte, hätten die Leute mehr Geld im Portemonnaie.“

Wirklich sparen können Verbraucher hingegen bei sehr teuren Produkten wie Autos, hochwertiger Elektronik, Möbeln, Küchen. Wenn es denn kurze Lieferfristen gibt, sodass die Abrechnung noch bis Ende Dezember erledigt ist.

Das gilt auch für manche Dienstleistungen, zum Beispiel im Baugewerbe. Aber da treten ebenfalls Probleme auf, wie Wulfhard Böker, Geschäftsührer der Kreishandwerkerschaft Harz-Börde berichtet. „Was ist mit Angeboten, die im März mit 19 Prozent Mehrwertsteuer abgegeben wurden, jetzt werden aber vielleicht Teilleistungen fertig, die zu 16 Prozent abgerechnet werden? Und die Schlussrechnung im Januar/Februar muss wieder mit 19 Prozent ausgewiesen werden – wer soll sich da noch durchfinden? Und wer die Kosten auffangen?“

Wer sauber arbeite, könnte schnell das Nachsehen haben, befürchtet Böker. „Wer kann ausschließen, dass nicht der eine oder andere versucht ist, die drei Prozent in den Nettopreis einzurechnen?“ Schließlich sei für viele Betriebe die Lage durchaus prekär. Böker verweist auf Friseure, die extrem unter der langen Zwangsschließung gelitten haben, dennoch gäben viele die Steuersenkung weiter. Andere bauen auf das Verständnis der Kunden, wenn sie dies nicht tun. „Angesichts geltender Beschränkungen erreichen die Betriebe in vielen Branchen immer noch nicht die Umsätze wie vor Corona“, sagt Böker und verweist unter anderem auf die Gastronomie. Und die Veranstaltungsbranche. Die dürfe ja überhaupt noch nicht wieder am Markt agieren.

Die meisten Firmen kämpfen mit den Folgen der Corona-Krise, durch die das Bauhandwerk relativ gut komme. Aber dass es jetzt einen wahren Ansturm auf Fliesenleger, Heizungsbauer und Maler gebe, kann Böker nicht bestätigen. „Wer vorhatte, zu bauen oder größere Renovierungen in Auftrag zu geben, hat das schon getan. Wer jetzt erst aufwacht und denkt, da nutze ich die Steuersenkung, wird das Nachsehen haben. Die Auftragsbücher vieler Handwerker sind voll. Und es gibt nicht genügend Fachkräfte, um diese Aufträge rasch abzuarbeiten. Manche Gewerke haben schon Wartelisten“, sagt Wulfhard Böker. „Das halbe Jahr Steuersenkung ist zu kurz gesprungen, wenn es langfristig Wirkung zeigen soll.“