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Jürgen Junker war Grenzsoldat und Bürgermeister von Veltheim Früher wie von der Welt abgeschnitten

Von Bernd-Uwe Meyer 18.08.2011, 04:26

Vor 50 Jahren, am 13. August 1961, vollendete die DDR den Berliner Mauerbau. Später folgte ein Eiserner Vorhang quer durch Deutschland. Auch der heutige Harzkreis war davon betroffen. Die Volksstimme besuchte ehemalige Grenzorte und traf dort Menschen, die jahrzehntelang unmittelbar am Zaun lebten, die ihn bewachten, aber auch Menschen, die erst nach dem Fall des Eisernen Vorhangs dort hinzogen. Wie Jürgen Junker aus Veltheim.

Veltheim. Als vor 50 Jahren die Mauer gebaut wurde, lebte Jürgen Junker noch nicht in Veltheim. Da war der spätere Grenzsoldat und Bürgermeister von Veltheim noch in seinem Geburtsort Westeregeln in der Ausbildung zum Traktoristen. An die Reaktionen älterer Menschen auf den 13. August 1961 erinnert er sich gut: "Jetzt werden wir eingepfercht. Da kommen wir nicht mehr \'raus."

Jürgen Junker wurde im Jahr 1962 zu den Grenztruppen eingezogen, 1963 verpflichtete er sich als Berufssoldat. "1966 wurde ich nach Veltheim versetzt, dort als Zugführer eingesetzt und 1967 zum Hauptfeldwebel ernannt. Im Jahr 1974 wurde ich aus gesundheitlichen Gründen Küchenleiter", blickte er zurück.

Nach Treffen mit West-Bruder vorzeitig den Dienst quittiert

Schon vor seiner Armeezeit, seit 1954/55, gab es im Veltheimer Park zwei Baracken, die der Grenzpolizei als Unterkünfte dienten. Als vor 50 Jahren der Ausbau der Grenzanlagen erfolgte, übernahm die Nationale Volksarmee (NVA) ab 1961 die Bewachung der DDR-Grenze. "Der Bau der Veltheimer Kaserne am südlichen Ortsrand erfolgte 1963 und 1964. 1970 wurden dort 16 Wohneinheiten gebaut", berichtete der Veltheimer Chronist und Zeitzeuge Rolf Maximilian aus der Geschichte. In zwei Gebäuden gab es je acht Wohnungen für Familien der Berufsunteroffiziere und Berufsoffiziere.

Jürgen Junkers Dienst bei den Grenztruppen endete vorzeitig. Im Jahre 1979 musste der Stabsfeldwebel seinen Dienst quittieren. Sein Vergehen: Er traf im Jahr 1978 in Westeregeln mit seinem Bruder zusammen, der in den 1950er-Jahren nach Nordrhein-Westfalen in die Bundesrepublik geflohen war.

Jürgen Junker wurde daraufhin auch aus dem Veltheimer Gemeinderat verbannt. Anschließend arbeitete er als landwirtschaftlicher Mitarbeiter in der LPG Hessen und "ging dort seinen Weg".

Im Mai 1988 feierte Junker in der Bundesrepublik den 50. Geburtstag seines Bruders, den er 1978 nicht treffen durfte. "Mir wurde damals gesagt, es würde nicht mehr lange dauern, bis Deutschland wieder ein Staat geworden ist", erinnerte sich der Veltheimer an Gespräche während seines Aufenthaltes im Westen. Entlang der innerdeutschen Grenze wurden zwischenzeitlich ab 1. November 1985 zumindest die Bodenminen beseitigt.

Mit Erstaunen und noch ungläubig nahm Junker 1989 die Ausreisen vieler DDR-Bürger über Ungarn in die Bundesrepublik zur Kenntnis. Als die Demonstrationsbewegungen immer massenhafter wurden, hatte der ehemalige Grenzsoldat immer noch Zweifel am Gelingen der ganzen Aktion. In Leipzig gingen seit dem 4. September 1989 wöchentlich tausende Menschen zu den Montagsdemonstrationen. Am 16. Oktober demonstrierten in dieser Stadt 120 000 Menschen, am 4. November kamen auf dem Berliner Alexanderplatz eine Million Demonstranten zusammen. "Ich hatte große Sorgen, dass es wieder einen Tag wie den 17. Juni 1953 geben könnte. Eine Niederschlagung wäre sehr schlimm gewesen", betonte Junker. "Als am 9. November 1989 durch die Medien bekannt gegeben wurde, dass in Berlin die Grenzöffnung erfolgt und die Mauer durchlässig geworden ist, wollte ich das zuerst nicht glauben", erinnert er sich.

"Als der Bus durch das Grenztor fuhr, wurde mir ganz anders im Gemüt"

Am Vorabend der Grenzöffnung bei Hessen bekam Familie Junker Besuch, der über die Demonstration vor Hessendamm informierte. "Als meine Bekannten von einer eventuellen Grenzöffnung sprachen, meinte ich noch, dass sie träumen würden", blickt der Veltheimer zurück. Er sei selbst dann noch ungläubig gewesen, als seine Kinder Sylvia und René am 12. November morgens um 6 Uhr von einer Feier aus dem Veltheimer "Alten Krug" heimkehrten und die Nachricht verbreiteten, dass in zwei Stunden die Grenze geöffnet werden solle. "Unsere Kinder berichteten, dass ein Roklumer in Stapelburg die Grenze passiert habe, in den Saal kam und die bevorstehende Grenzöffnung ankündigte."

Neugierig geworden, fuhr Junker um 7 Uhr mit seinem Motorrad nach Hessendamm. Einige Fußgänger kamen ihm entgegen und bestätigten die anstehende Grenzöffnung. "Ich eilte zurück, holte meine Frau und Kinder. Gemeinsam gingen wir nach Hessendamm und holten unsere Ausreisestempel. Dort warteten Menschenmassen." Gegen 8 Uhr kam bereits ein Bus aus "dem Westen" und holte die ersten DDR-Bürger ab. Im Bus fuhr Familie Junker bis nach Wolfenbüttel: "Als der Bus durch das Grenztor fuhr, wurde mir ganz anders im Gemüt. Ich konnte das alles noch nicht glauben."

Jürgen Junker beteiligte sich im Frühjahr 1990 an den ersten freien und demokratischen Kommunalwahlen und erhielt über 90 Prozent der Wählerstimmen. In der ersten Ratssitzung wurde er daraufhin als Bürgermeister vorgeschlagen, wollte aber zunächst dieses Amt gar nicht annehmen. Doch einige Veltheimer und der Roklumer Bürgermeister Dieter Schliephacke machten dem Kommunalpolitiker Mut. Jürgen Junker arbeitete bald nach dem Mauerfall, genau vom 9. Juli 1990 bis Ende 2005, bei Dieter Schliephacke und Sohn Bernd in der Landwirtschaft. Vom heutigen Ehrenbürgermeister Schliephacke, dessen Vorfahren aus Veltheim stammen, bekam Junker oft Tipps und Unterstützung. 18 Jahre lang blieb Jürgen Junker als ehrenamtlicher Bürgermeister tätig. Für seine Verdienste wurde er am 11. April 2011 zum Ehrenbürger der Stadt Osterwieck ernannt.

"Nach meiner ersten Wahl zum Bürgermeister folgten schwere Zeiten. Wir behielten aber einen kühlen Kopf. In unserem Grenzdorf gab es keine Infrastruktur. Wir lebten wie von der Welt abgeschnitten", erklärte Junker.

Doch bald ging es voran im Fallsteindorf: Im Herbst 1990 wurde mit dem Bau der Trink- und Abwasserleitungen begonnen. Als 1991 die erste Straße saniert worden ist, wurden in Veltheim auch Telefonleitungen verlegt. Junker: "Die Leute, die vorher bei uns ein Telefon besaßen, konnten wir ja an einer Hand abzählen."

Später erneuerte man den Dorfteich, die Straßenbeleuchtung und weitere Straßen, die alte Schule wurde zum Gemeindezentrum ausgebaut und der gemeindeeigene Kirchturm vor dem Verfall gerettet. Im Jahre 2002/03 erfolgte der Ausbau des Feuerwehrgerätehauses. "Vor wenigen Jahren wurde Veltheim an das Gasnetz angeschlossen. Viele Dorfbewohner verschönerten ihre Häuser", freut sich der Ex-Bürgermeister über den Aufschwung im Dorf, den es ohne den Mauerfall wohl nicht gegeben hätte.

"Veltheim wäre ohne Mauerfall immer mehr verfallen"

Bereits am 3. Oktober 1990 schloss die Gemeinde Veltheim mit dem niedersächsischen Nachbardorf Roklum einen Partnerschaftsvertrag ab. Seit der Grenzöffnung bestehen auch enge Kontakte zwischen den Feuerwehren beider Orte.

Jürgen Junker erinnert an die engen Beziehungen zu den namensgleichen Gemeinden Veltheim an der Ohe bei Porta Westfalica sowie in der Schweiz in Winterthur und im Kanton Aargau. Ohne Mauerfall und deutsch-deutsche Wiedervereinigung wären diese Orte unerreichbar geblieben.

"Die jungen Menschen zogen früher meist aus dem Sperrgebiet weg. Veltheim wäre ohne Mauerfall immer mehr verfallen. Ich finde es gut, so wie es gekommen ist", betonte der ehemalige Grenzsoldat, der heute problemlos Verwandte und Bekannte in den alten und neuen Bundesländern besuchen kann.