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Drama mit Ansage Keine Zahnarzt-Nachfolger für Osterwieck in Sicht

Nach fast 44 Dienstjahren in der Ilsestadt hat Dr. Hartmut Tschötschel seine Praxis geschlossen. Außer ihm haben voriges Jahr noch zwei Kolleginnen im Stadtgebiet aufgehört.

Von Mario Heinicke 29.01.2024, 08:49
Dass das Team der Zahnarztpraxis bis zum letzten Tag Freude an der Arbeit gehabt hat, dokumentiert auch dieses Foto zum Abschied. Von links: Hartmut Tschötschel, Andrea Rabas und Jutta Tschötschel.
Dass das Team der Zahnarztpraxis bis zum letzten Tag Freude an der Arbeit gehabt hat, dokumentiert auch dieses Foto zum Abschied. Von links: Hartmut Tschötschel, Andrea Rabas und Jutta Tschötschel. Foto: Mario Heinicke

Osterwieck - Noch fühlt es sich wie Urlaub an“, sagt Hartmut Tschötschel. Vor gut einem Monat hat er seine Zahnarztpraxis geschlossen. Dass der 68-Jährige bis ins Rentenalter hinein gearbeitet hat, führt er zum einen auf seine Leidenschaft für den Beruf zurück. Die wohl auch seine Patienten verspürten und ihm zum Abschied bewegende Momente bescherten. „Es gab in den letzten Wochen so viele rührende, liebe Worte und Geschenke“, berichtet Hartmut Tschötschel. „Dafür möchte ich mich herzlich bedanken.“ Dass er so lange im Dienst der Patienten blieb, hat aber zum anderen auch mit der bis zuletzt währenden Hoffnung zu tun, doch noch einen Praxisnachfolger zu finden.

Denn jetzt ist in Osterwieck das eingetreten, wofür er die Stadtväter schon vor Jahren zu sensibilisieren versucht hatte: dass nämlich die Zahnärzte, ausnahmslos seit DDR-Zeiten hier tätig, mit einem Schlag in den Ruhestand gehen werden. Tatsächlich haben außer Hartmut Tschötschel in der Einheitsgemeinde 2021 ein Kollege und 2023 zwei Kolleginnen ihre Praxis abgeschlossen. Damit gibt es jetzt für 11.000 Einwohner mit Karen Lange nur noch eine Zahnärztin vor Ort. „Eigentlich soll ja auf 1.680 Einwohner ein Zahnarzt kommen“, erklärt Tschötschel. „Wir müssten hier also sechs Zahnärzte sein.“

Wie groß die Not jetzt ist, hat der Mediziner noch zu spüren bekommen, als zig Patienten aus zuvor geschlossenen Praxen zu ihm kamen. Jetzt müssen sich alle einen neuen Arzt suchen. Doch viele Praxen im Umland nehmen keine Neupatienten mehr auf, weil sie ebenfalls überlastet sind. Karen Lange sei grundsätzlich zur Neuaufnahme bereit, hieß es auf Anfrage aus ihrer Praxis. Aber nur noch für Bewohner aus der Einheitsgemeinde. Ihre vor zwei Jahren erklärte Absicht, noch bis 2027 zu praktizieren, bestehe weiter.

Rückblende: Als Hartmut Tschötschel im Sommer 1980 nach Osterwieck kam, war hier die Situation gar nicht so viel anders als heute. „Bürgermeisterin Scholle und Dr. Vogt, der Chef des Medizinischen Zentrums, suchten händeringend einen jungen Zahnarzt. Waren doch die alten Zahnärzte Dr. Dettmar und Herr Liebisch in den Ruhestand gegangen. Und Herr Waschek und Frau Dr. Pauling kämpften allein auf weiter Flur.“ Die Räume der staatlichen Zahnarztpraxis 2 in der Neukirchenstraße, in der Hartmut Tschötschel einen Behandlungsstuhl übernahm, waren bis dahin nur tageweise durch Zahnärzte aus Halberstadt besetzt gewesen.

Dass Bürgermeisterin Scholle auch eine schöne Wohnung für den damals 25-jährigen Mediziner anbot, war neben dem eigenen Praxisraum ein zusätzlicher Motivationsfaktor, von Halberstadt in die Ilsestadt umzuziehen.

In Halberstadt ist Hartmut Tschötschel aufgewachsen. Eigentlich mit dem Berufswunsch, Meeresbiologe zu werden. Das Abitur erwarb er in Halle, verbunden mit einem intensiven Sprachkurs für ein Auslandsstudium. „In der elften Klasse kamen Vertreter der Arbeiter- und Bauernfakultät an die EOS und warben für ein Auslandsstudium der Zahnmedizin. Denn auch das ist eine Parallele zum Heute: Es gab in den 1970er Jahren – ebenfalls altersbedingt – immer weniger Zahnärzte in der DDR. Deshalb sind seinerzeit jährlich 80 Zahnmedizin-Studienplätze im osteuropäischen Ausland vergeben worden. Tschötschel gehörte zu 20 DDR-Studenten, die von 1974 bis 1979 an der Universität Cluj-Napoca (Klausenburg) in Nordrumänien studierten. Es folgte die Facharztausbildung bis 1980 in der Halberstädter Zahnklinik unter Leitung von Dr. Waldemar Wolf.

In Osterwieck wartete auf Hartmut Tschötschel in den ersten Jahren vor allem Arbeit von früh bis spät. „Lange Sprechtage mit bis zu 50 Patienten waren keine Seltenheit.“ Zum Vergleich: Heute würde er in der Zeit etwa 15 bis 18 Patienten behandeln.

Entlastung für den Zahnarztmangel sei in den 1980er Jahren erst mit weiteren jungen Kollegen gekommen – Manfred Bote, das Ehepaar Lubinetzki und Annegret Herbst. „Damit war Osterwieck über viele Jahre gut versorgt.“

Zwischendurch hat Hartmut Tschötschel 1987 am Universitätsklinikum Magdeburg promoviert. Mit der Wende gründete er in Osterwieck eine freie Niederlassung, zog 1993 schließlich mit der Praxis von der Neukirchenstraße in ein eigenes Haus Am Langenkamp um.

Das Osterwiecker Dilemma ist mit Ansage gekommen. Hartmut Tschötschel hat nicht nur mehrfach den Kontakt zur Kassenzahnärztlichen Vereinigung Sachsen-Anhalt (KZV) und zur Stadtverwaltung gesucht, sondern auch viele Kollegen sowie Berufsnachwuchs angesprochen, seine Praxis zu übernehmen oder wenigstens eine Außenstelle einzurichten. „Die Ausstattung würde ich sogar fast verschenken.“ Bisher waren alle Bemühungen vergebens.

Andererseits wundert es den Osterwiecker auch nicht, dass eine frei niedergelassene Tätigkeit in einer kleinen Praxis nicht mehr attraktiv erscheint. „Gründe gibt es viele, und die sind seit Jahren bekannt.“ Vor allem Bürokratie, der Verwaltungsaufwand sowie das riesige Investitionsvolumen bei Neugründung.

„Ich kann mich gut an die Zeit erinnern, als ein Zahnarzt und eine Helferin in nur einem Sprechzimmer genügten, um den Patienten optimal zu betreuen. Aber das waren andere Zeiten, als der Arzt wirklich nur Arzt war, ohne ökonomischen Druck und bürokratische Zwänge.“ Nach seiner Einschätzung gehe der Trend zu Großpraxen.

Zwiespältig sieht Hartmut Tschötschel im Rückblick die Wertschätzung der Zahnmedizin durch die Stadtverantwortlichen. Zuletzt habe es Unterstützung bei der Nachfolgersuche gegeben, aber wie die Jahre zuvor kaum Anerkennung, auch nicht zu Praxisjubiläen. Gut erinnern könne er sich noch an eine Bemerkung im Rathaus zur Zahnarztproblematik: „Der Markt wird’s schon richten“.

Osterwiecks Bürgermeister Dirk Heinemann (SPD) ist seit Beginn seiner Amtszeit vor zwei Jahren für das Thema sensibilisiert. „Ich war zunächst überrascht, dass es von Seiten der zuständigen Stellen nicht möglich ist, Ersatz für die ausscheidenden Zahnärzte zu beschaffen“, blickt er zurück.

2022 habe die Stadt Kontakt mit der Kassenzahnärztlichen Vereinigung (KZV) aufgenommen und um die Suche nach Zahnärzten für Osterwieck gebeten. Durch den Stadtrat seien sogar Mittel bereitgestellt worden, um Zahnärzte bei der Praxiseinrichtung zu unterstützen.

Außerdem sei über das MVZ Nordharz im Dezember 2022 der Deutsche Hausarzt Service, ein Personalvermittler, mit der Suche nach Ärzten und Zahnärzten beauftragt worden.

„Bei den Zahnärzten standen wir im engen Kontakt mit Herrn Dr. Tschötschel“, berichtet Heinemann weiter. Die Stadt hatte zwei Anzeigen des Zahnarztes in Fachpublikationen finanziert. „Es gab lose Anfragen, aber am Ende leider kein positives Ergebnis“, bedauert der Bürgermeister.

Aufgeben will Dirk Heinemann bei der Zahnarztsuche nicht. Er könne sich vorstellen, Studenten der Medizin und Zahnmedizin mit Stipendien zu unterstützen. „Diese müssten sich verpflichten, nach Abschluss der Ausbildung in Osterwieck tätig zu werden. Ich beabsichtige, dem Stadtrat eine Richtlinie zur Gewährung dieser Stipendien vorzulegen und die Verwaltung per Beschluss damit zu beauftragen.“

Darüber hinaus bleibe die Stadt, so Heinemann, mit der KZV in Verbindung. Dort ist auch das Osterwiecker Angebot hinterlegt: Die Stadt würde Zahnärzte, die hier ihre Arbeit aufnehmen, mit 10.000 Euro unterstützen. Darüber hinaus wird Hilfe für Wohnen und Kita-Plätze angeboten.