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Rückblick Heute kein Sprechtag im Rathaus

1. Juli 1990: Die D-Mark kommt, zeitgleich mit dem Neu-Anfang der Verwaltung in Halberstadt. Ralf Abrahms erinnert sich.

Von Sabine Scholz 01.07.2020, 01:01

Halberstadt l Das Buch besitzt er noch. „Am 30. Juni 1990 bin ich auf den Breiten Weg gegangen und habe mir viele Bücher gekauft. Das wichtigste war das ‚Kleine Abkürzungsbuch‘ hier.“ 6500 Abkürzungen und Kurzworte aus dem DDR-Sprachschatz waren da erklärt – von ABV bis TGL, von VEB bis KIM. Für den in Bad Harzburg aufgewachsenen Ralf Abrahms wichtige Lektüre. Begann er doch am 1. Juli seine Arbeit als Dezernent in Halberstadt.

Am 7. Juni 1990 hatten die Mitglieder der Stadtverordnetenversammlung – gewählt im Mai in der ersten und einzigen freien Kommunalwahl der DDR – eine neue Führungsriege für die Verwaltung gewählt. Offizieller Amtsantritt für das Team um Oberbürgermeister Matthias Gabriel (SPD) war der 1. Juli – zugleich Tag der Währungsunion. Abrahms, der am 3. Juli 1990 seine letzte Prüfung für den Abschluss des Studiums der Politikwissenschaften und Wirtschaftsgeografie absolvierte, hatte im Juni einen Abschlag auf sein Gehalt bekommen – in Ost-Mark.

Bis heute, sagt der 62-Jährige, habe er großen Respekt, wie die Ostdeutschen damals den Dauerstress gemeistert haben. „Es war ja alles unsicher – vom Arbeitsplatz über den Personalausweis bis hin zum Führerschein. Dann neues Geld, neue Waren, neue Gesetze.“ Als es jetzt zur Eindämmung der Corona-Pandemie in ganz Deutschland zu Verunsicherungen kam, fühlte er sich ein bisschen in die Zeit Anfang der 1990er Jahre zurückversetzt, sagt der heutige Bad Harzburger Bürgermeister.

Auch wenn das nicht wirklich vergleichbar sei, wie er sagt. „Aber damals waren die Handelnden auch fast im Wochentakt mit neuen Vorgaben, Erlässen und Gesetzen konfrontiert“, sagt Ralf Abrahms. Gerade er, der als Dezernent für Kommunalplanung, Umweltsicherung, Wirtschafts- und Gewerbeförderung viel mit der Treuhand zu tun hatte, erwarb Übung im Umgang sich monatlich ändernden Spielregeln.

Den Neustart der Stadtverwaltung Halberstadts ab 1. Jui 1990 hat er hautnah erlebt, für den Wandel, die Entwicklung der Stadt mit Grundlagen gelegt. Viele Anekdoten kann er berichten. So vom Pförtner, der ihn an seinem ersten Tag nicht ins Gebäude lassen wollte mit den Worten: „Heute ist kein Sprechtag“. Oder der Spruch „Wer entführt schon im Sommer Schneeschieber“. Gesagt, als eine Wagenburg rund um den Städtischen Friedhof aufgebaut wurde, als die Stadt ihr Eigentum vor dem Ausverkauf an – wie sich später zeigen sollte zwielichtige – Investoren retten wollte. Seine Mitarbeiter haben ihm zum Abschied 1995 eine Mappe angelegt mit Erinnerungsstücken. Die Sprüche gehören dazu.

Dass er mit 32 damals sehr jung war für diesen Job, habe ihm weniger Schwierigkeiten gemacht als seine politischen Verortung bei den Grünen. Mit 23 war Abrahms 1981 als damals jüngster Abgeordneter und erster Grüner in Bad Harzburgs Stadtrat gewählt worden. Ein Mandat, dass er auch während seiner Zeit in Halberstadt behielt. Schon damals habe er einen Grundsatz verfolgt: Im Amt hat es neutral zuzugehen. „Natürlich habe ich Grundüberzeugungen, aber Ideologie, Parteipolitik oder gar Dogma hat im Amt nichts zu suchen.“ Das hält er bis heute so, seine zweite Wiederwahl in Bad Harzburg im vergangenen Jahr gewann er als Einzelkandidat.

Die Zeit in Halberstadt hat ihn ebenso mit geprägt wie die schwierigen sieben Jahre nach seinem Ausscheiden aus der Stadtverwaltung. Er arbeitete in schlecht bezahlten Berufen, war auch mal arbeitslos und wurde 2002 zum hauptamtlichen Bürgermeister Bad Harzburgs gewählt. Aufgeben ist nicht seins. Vor seiner Zeit in Halberstadt jobbte er als Pappenhilfsarbeiter und Werksstudent, um sein Studium zu finanzieren, feierte gern – aber beendete sein Studium. Er war Schülersprecher und blieb zweimal sitzen, er kämpfte um einen Jugendklub in Bad Harzburg und war sich nicht zu schade, da auch die Klos zu putzen. Er engagierte sich politisch und blieb doch immer verwurzelt in seiner Heimat. „Ich sehe mich als Harzer“, sagt er.

Spuren hat Abrahms trotz der vergleichbar kurzen Amtszeit als Wirtschaftsdezernent in Halberstadt durchaus hinterlassen. Er ist nach wie vor überzeugt, dass großflächiger Einzelhandel nicht auf die grüne Wiese gehört, ein paar Sortimente nimmt er davon aus. Dass es gelang, Möbelhäuser ins zweite Gewerbegebiet zu holen, darauf ist er noch heute stolz. Damals war die Innenstadt noch eine Brachfläche, „aber wir wollten deren mögliche Entwicklung nicht durch Neubauten am Stadtrand verhindern.“ Rund 50 Firmen gründeten sich oder kamen in seiner Dezernentenzeit nach Halberstadt, bis heute ist die Zahl deutlich gewachsen. Es ist wichtig, das Vorhandene zu pflegen, aber um Neues zu bekommen, muss man außerhalb der Stadtmauern schauen, „Klinken putzen muss man auswärts, nicht in der eigenen Stadt“, sagt Abrahms.

Im Gewerbegebiet Am Sülzegraben ist sein grünes Herz übrigens bis heute sichtbar. Dass große Regenrückhaltebecken ist keine langweilige Betonwanne, sondern hat sich zu einem tollen Biotop entwickelt.

Er ist froh, dass er damals – mit der Erfahrung aus Niedersachsen versehen – mit darauf achtete, dass die Stadt als Mittelzentrum mit Teilfunktionen eines Oberzentrums im regionalen Landesentwicklungsplan verankert ist. „Das eröffnete uns die Chance, ein Handels- und Dienstleistungszentrum in der Region zu werden, quasi Behörden ,einzukaufen‘. Das es da inzwischen Veränderungen gab, ist der Lauf der Dinge. Stadtentwicklung ist ein fortwährender Prozess.“

Halberstadts Entwicklung verfolgt er noch immer. Dass sich der nach dem Krieg fast komplett weggebrochene unternehmerischer Mittelstand wieder entwickelt, sei wichtig, sagt er. „Das dauert mindestens eine Generation, aber die ist ja mit den vergangenen 30 Jahren nun auch herangewachsen.“