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Bahnunglück  Sekundenbruchteile an Katastrophe vorbei

Nach einem Unfall am Bahnübergang zwischen Hedersleben und Wedderstedt haben sich zwei Bahn-Mitarbeiter vor Gericht verantworten müssen.

Von Dennis Lotzmann 11.02.2016, 00:01

Quedlinburg/Hedersleben/Wedderstedt l Es ist wohl eines der schlimmsten Szenarien, die man sich vorstellen kann: Ein beladener Tanklastzug überquert an einem Übergang eine Bahnstrecke und kollidiert dort mit einem Zug. Vor knapp drei Jahren ist dieses Szenario in der Verbandsgemeinde Vorharz wahr geworden. Auf dem Bahnübergang zwischen Hedersleben und Wedderstedt stießen ein Tanklaster und ein Bauzug der Bahn zusammen. Weil alle Beteiligten damals „sämtliche Schutzengel hatten, die man sich vorstellen kann“, so die Quedlinburger Amtsrichterin Antje Schlüter, sei die Sache gerade noch glimpflich abgegangen. Deshalb kamen die beiden Verantwortlichen nun mit einem blauen Auge davon.

Die beiden, ein 55 Jahre alter Lokführer und ein 52 Jahre alter Kollege, mussten sich jetzt vor dem Quedlinburger Amtsgericht verantworten. Die Staatsanwaltschaft warf ihnen vor, fahrlässig gegen Bahnvorschriften verstoßen und in der Folge fahrlässig Körperverletztung begangen zu haben.

Was war passiert? Die beiden sollten in der Nacht vom 15. zum 16. Mai 2013 mit einem speziellen Bauzug Reparaturarbeiten ausführen. Etwa zehn Minuten vor Mitternacht wurde die davon tangierte Trasse dafür zum Baugleis erklärt.

Konsequenz: Der Streckenabschnitt wurde für den regulären Bahnverkehr gesperrt, allein die Bautruppe konnte agieren. Außerdem waren Sicherungsanlagen wie die automatische Bahnübergangsanlage zwischen Hedersleben und Wedderstedt in dieser Bau-Nacht außer Betrieb.

Um alle Abläufe rund um die Arbeiten und den regulären Zugverkehr bis ins Detail zu regeln, werden für derartige Arbeiten Betriebs- und Bauanweisungen – abgekürzt Betra – erstellt.

Diese Betra, so heißt es seitens der Staatsanwaltschaft, habe für den geschobenen Bauzug eine Maximalgeschwindigkeit von 20 Kilometern pro Stunde erlaubt. Tatsächlich sollen die beiden laut Anklage deutlich schneller gefahren sein – vor Gericht war von etwa Tempo 50 die Rede.

Jener Geschwindigkeitsverstoß war jedoch nicht der einzige Fehler, mit dem die beiden Angeklagten jetzt vor Gericht konfrontiert wurden. Erstens, so der weitere Vorwurf, hätte ein Einweiser an der Spitze des geschobenen Zuges mitfahren und den Lokführer dirigieren müssen. Zweitens hätte sich dieser Einweiser vom Freisein des Bahnübergangs überzeugen müssen.

Beides, so die Anklage, hätten die beiden Mitarbeiter in jener Mai-Nacht versäumt. So steuerten sie geradewegs auf die Beinahe-Katastrophe zu: Während sie mit ihrem Bauzug viel zu schnell auf den Kreuzungspunkt mit der Landesstraße zurollten, näherte sich auf dieser ein mit Benzin beladener Tanklastzug dem ungesicherten Bahnübergang. Wenige Augenblicke später krachte es.

Dass die Kollision nicht in ein Inferno mit Explosion des geladenen Benzins mündete, sondern es bei einem verletzten Lkw-Fahrer und hohem Sachschaden blieb, verdanken die beiden Schuldigen einem Sekundenbruchteil: Ihr tonnenschwerer Bauzug knallte ins Lkw-Führerhaus, der gezogene Tankzug blieb gänzlich unbeschädigt.

Der Lkw-Fahrer, der am ungesicherten Übergang nicht mit einem Zug rechnen musste, erlitt schwere Verletzungen. An den psychischen Folgen leide er bis heute, berichtete er vor Gericht.

Wahrscheinlich sind es auch die Bilder, die ihm immer und immer wieder durch den Kopf gehen. So werden mit Blick auf diese Kollision sofort Erinnerungen an das schwere Zugunglück in Langenweddingen bei Magdeburg wach.

Dort war am 6. Juli 1967 ein Doppelstockzug an einem beschrankten Bahnübergang mit einem Tanklastwagen zusammengestoßen, der explodierte. Damals waren nach offiziellen Angaben 94 Tote zu beklagen, darunter 44 Schulkinder, die auf dem Weg in ein Ferienlager in Thale waren. Ursache des Unglücks war ein Telefondraht, der sich mit dem Schrankenbaum verhakt hatte und dessen Absenken verhinderte.

Dieses Unglück gilt nach dem Eisenbahnunfall von Genthin im Dezember 1939 mit mindestens 186 Toten und dem ICE-Unglück von Eschede (1998) mit 101 Opfern als das drittschwerste in der Geschichte der deutschen Eisenbahn.

Wobei es trotz aller Sicherheitstechnik an Bahnübergängen immer wieder zu brenzligen Situationen kommt. So vor Jahren an Bahnhof Frose (Salzlandkreis). Ein Schulbus querte mitten am Tag den Bahnübergang, während der Posten im unmittelbar angrenzenden Stellwerk die Schranken herab ließ. Auch hier ging es glimpflich aus. Zwar wurde der Bus zwischen den Schranken eingeklemmt, der Fahrer konnte jedoch den Schrankenbaum durchbrechen und den Bus von den Gleisen fahren.

Viel Glück im Unglück hatten letztlich auch die beiden Baumitarbeiter bei der Kollision zwischen Hedersleben und Wedderstedt. Sie zeigten sich vor dem Amtsgericht Quedlinburg reumütig und bedauerten ihr fahrlässiges Verhalten und die fatalen Folgen. Da beide nicht vorbestraft sind und bereits arbeitsrechtlich mit Abmahnungen zur Verantwortung gezogen wurden, plädierte die Staatsanwaltschaft für eine Verfahrenseinstellung gegen je 1000 Euro Geldauflage.

Diesem Antrag folgte Strafrichterin Antje Schlüter. Da alle weitergehenden Punkte wie Schadenersatz und Schmerzensgeld nach der Kollision bereits reguliert wurden, dürfte die Unfallakte Hedersleben damit nun endgültig zugeklappt worden sein.