1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Halberstadt
  6. >
  7. Sprachlos nach Diebstahl in Halberstadt

Auto-Einbruch Sprachlos nach Diebstahl in Halberstadt

Dieser Fall berührt viele Halberstädter. Einer behinderten jungen Frau wurde durch Diebe die Möglichkeit genommen, zu kommunizieren.

Von Sabine Scholz 08.10.2020, 01:01

Halberstadt/Leipzig l „Es war so ein schöner Tag, und dann das.“ Uta Günther ist noch immer fassungslos. Und wütend auf sich selbst. Die Halberstädterin, die seit Studientagen in Leipzig zu Hause ist, war zu einer Familienfeier angereist, gemeinsam mit ihrer 28-jährigen Tochter Marika. Die ist, seit sie als Zweijährige fast in einem Gartenteich ertrunken wäre, nicht mehr in der Lage, zu sprechen, sitzt aufgrund schwerer Spasmen im Rollstuhl und braucht viel Unterstützung. Aber sie ist auch eine fröhliche junge Frau, überall dabei und mittendrin. Sie hält sogar Vorträge. Weil es ihr die Technik ermöglicht.

Doch genau diese Technik wurde aus dem Auto der Familie gestohlen, als sie am Wochenende in Halberstadt zu Besuch war. „Ich wohne in einer Großstadt, da räumt man immer alles aus dem Auto, glauben Sie mir. Aber an diesem Abend waren wir spät dran, hatten so viele Beutel und Taschen, dann die Rucksäcke, der Rollstuhl, alles musste ins Hotelzimmer gebracht werden. Ich habe die Tasche mit dem Talker schlicht vergessen“, berichtet Uta Günther. „Marika hat seit 20 Jahren einen Talker. Es ist noch nie passiert, dass er im Auto gelassen wurde.“ Bis auf dieses eine Mal.

In der Nacht zum Sonntag, 4. Oktober, wurde die Seitenscheibe des VW Caddy eingeschlagen, der auf einem Behindertenparkplatz vor dem Hotel stand. Die Diebe nahmen die Tasche mit dem Talker mit, ein teurer Spezialcomputer, den Marika mit den Augen bedient. „Es hat so viele Kämpfe gekostet, dass wir ein neues Gerät bekommen. Und dann das. Der alte Talker hat immerzu seinen Geist aufgegeben, deshalb haben wir uns um ein neues Gerät bemüht“, berichtet Marikas Mutter. Im August war es soweit, nach Anträgen, Ablehnungen und Widersprüchen bekam Marika einen neuen Talker.

Sie erstattete am Sonntag gleich Anzeige bei der Polizei, informierte umgehend die Versicherung. Denn das rund 15.000 Euro teure Gerät ist Eigentum der Krankenkasse. Auch die Herstellerfirma kontaktierte die Mutter in der Hoffnung, dass man den Sprachcomputer vielleicht wie ein Handy orten könne. „Die Mitarbeiter der Firma wollen alles versuchen, denn ganz so einfach ist es nicht“, sagt Günther.

Gemeinsam mit Familie und Freunden wurde das Gelände rund um die Zuckerfabrik abgesucht, für den Fall, dass die Diebe bemerkt haben, dass sie mit dem Gerät nichts anfangen können. „Den kann man nicht einfach auf dem Markt anbieten, dazu ist er viel zu speziell“, sagt Uta Günther. Vielleicht, so hofft sie, hat der Dieb ein Einsehen und bringt das Gerät anonym zur Polizei, damit ihre Tochter wieder kurze E-Mails schreiben und „reden“ kann.

Denn genau dazu dient der Talker. Dank einer speziell entwickelten Software kann Marika, die aufgrund ihrer Beeinträchtigung keine Feinmotorik entwickelt hat, einzelne Buchstaben auf einer auf dem Bildschirm dargestellten Tastatur mit den Augen ansteuern. Es gibt auch Icons, die gleich bestimmte Sätze oder Wortgruppen darstellen, erklärt die 58-Jährige. Die werden dann vom Computer ausgesprochen oder als E-Mail versendet. So halte ihre Tochter Kontakt mit der Umwelt. „Das ist für Marika wahnsinnig wichtig“, sagt die zweifache Mutter.

Immerhin ist Marika als Botschafterin für unterstützte Kommunikation unterwegs. Sie stellt sich und die hilfreiche Technik vor Studenten vor, die Sonderprädagogik studieren. „Die Studenten, aber auch Heilerziehungspfleger haben oft nur theoretisch Kenntnis von solchen technikgestützten Kommunikationsmöglichkeiten. Am Auftrag ihrer Selbsthilfegruppe zeigt Marika, wie das alles in der Praxis aussieht.“

Ihre Vorträge erarbeitet Marika gemeinsam mit den Therapeuten in ihrer Tagesförderstätte in Leipzig, wo sie auch jeden Vortrag übt. Die Tagesstätte war einst auf Initiative betroffener Eltern hin überhaupt erst entstanden. Marika sei dort „total glücklich“, sagt die Mutter, ebenso wie in ihrer Wohngemeinschaft. Ihre Tochter lebt in einer ambulant betreuten Wohngruppe, so Uta Günther.

Um im Kontakt mit ihrer Tochter zu bleiben, hat Familie Günther nach der Rückkehr nach Leipzig den ausgemusterten alten Talker reaktiviert. „Der stürzt zwar dauernd ab, aber immerhin bekommen wir die eine oder andere Information hin- und her gemailt“, berichtet die studierte Bauingenieurin. Schließlich will Marika wissen, was nun ist, ob man ihren Talker wiedergefunden hat. „So viele Menschen, die sich jetzt kümmern. Vielleicht haben wir ja Glück.“