Innerdeutsche Grenze bestimmte das Leben von Ute Voß Zuhause war nur zwei Kilometer weiter - hinter dem Zaun
Vor 50 Jahren begann in Berlin der Bau der Mauer. Nicht nur Berlin war davon betroffen. Die Grenze, die sich durch ganz Deutschland zog, wurde nach demselben Muster gesichert. So schaute auch Ute Voß jahrzehntelang auf eine Mauer, hinter der ihr Heimatdorf Döhren lag, das sie kurz vor dem Mauerbau verlassen hatte.
Döhren/Mackendorf. "Ich habe immer das Gefühl, wenn ich durch Döhren fahre, dann bin ich zu Hause", sagt Ute Voß. Dabei lebt sie seit einem halben Jahrhundert nur zwei Kilometer weiter in Mackendorf. Der Acker, der ihrer Familie in Döhren gehört, schließt sich direkt an ihren Acker in Mackendorf an. Dazwischen lag jahrzehntelang die innerdeutsche Grenze.
Wenn sich junge Leute aus Nachbarorten verlieben und heiraten, ist das etwas Normales. Wenn jedoch zwischen den Dörfern eine Grenze besteht, ist nichts mehr normal. So war das jedenfalls für Ute Schenke aus Döhren und Jürgen Voß aus Mackendorf. Ihre Eltern waren befreundet, und die jungen Leute kannten sich auch. Dass daraus mehr wurde, begann bei einem Reitturnier in Vorsfelde im Niedersächsischen. Der Reitverein Rätzlingen, zu dem die junge Frau gehörte, hatte eine offizielle Erlaubnis, an dem Turnier teilzunehmen. Und da waren auch Mackendorfer Reiter.
Sich danach wiederzusehen, war nicht so einfach. Dafür gingen jede Woche Briefe hin und her. "Später hat mein Mann nie wieder einen Brief geschrieben", erzählt die 70-Jährige schmunzelnd. In dieser Zeit reifte der Entschluss, die DDR zu verlassen. Inzwischen studierte sie Landwirtschaft in Halle. Die Probleme ihrer Eltern mit ihrem Bauernhof bestärkten Ute Voß in ihrem Entschluss.
Ihre Flucht hatte sie gut geplant. Da ihr Bruder ein Studium zum Landtechnik-Ingenieur in der Fachschule Friesack absolvierte, hatte Ute Voß am 12. Januar 1960 eine Fahrkarte nach Friesack gekauft, um keine Probleme zu bekommen, falls sie kontrolliert wird. Nach Friesack musste sie mit der S-Bahn durch West-Berlin fahren. In Charlottenburg stieg sie aus, tauschte etwas Geld, das ihr ihre Eltern gegeben hatten, und suchte dann Bekannte ihres Vaters auf. Ihr Freund hatte dorthin Geld überwiesen, damit sie den Flug von Berlin nach Hannover bezahlen konnte. Und sie hatte Glück, denn sie bekam noch einen Flug. "Mit dem Flugzeug bin ich dann über Döhren geflogen", erinnert sich Ute Voß. Döhren liegt genau auf der Flugroute Berlin-Hannover. Das Flugpersonal sagte an: "Jetzt fliegen wir über die Zonengrenze!"
"Ich saß zum ersten Mal in einem Flugzeug. Und als ich ausgestiegen bin, hatte ich solchen Druck auf den Ohren, dass ich gar nichts mehr gehört habe. Vielleicht war aber auch die Aufregung mit schuld", denkt Ute Voß zurück. Auf dem Flughafen Hannover wurde sie schon erwartet, und um Mitternacht war die junge Frau in Mackendorf.
Sie hätte auch in Döhren "rübergehen" können, sagt sie, aber das wollte sie ihren Eltern nicht antun. Aber auch so war die Polizei schon mittags bei ihren Eltern, um nach ihr zu fragen. "Wahrscheinlich hatte mich jemand gesehen, als ich morgens um 5 Uhr mit dem Zug losgefahren bin", vermutet Ute Voß.
Ein Vierteljahr später kam ihre Mutter zu Besuch. Sie hatte die Genehmigung bekommen, um die Tochter zurückzuholen, aber Ute Voß wollte nicht zurück. Ein Jahr nach ihrer Flucht heiratete Ute Voß.
Wilhelm und Lieselotte Schenke, ihre Eltern, saßen zu der Zeit in der DDR im Gefängnis. Zu Hause hatte sich die Situation zugespitzt. Ihre Eltern wurden am 5. August 1960 inhaftiert. Ihr Vater wurde zu zehn Monaten verurteilt, ihre Mutter zu 18 Monaten. Begründet wurde das Urteil für Wilhelm Schenke unter anderem so: "Seine Einstellung zu unserem Arbeiter- und Bauernstaat zeigt sich darin, dass er sich sehr stark auf die Entwicklung in Westdeutschland orientierte. Ständig hörte er westdeutsche Fernseh- und Rundfunksendungen ab. Er bejahte die Entwicklung in Westdeutschland, weil er die Freie Marktwirtschaft als die bessere ansah." Ähnlich stand es auch im Urteil von Ute Voß\' Mutter.
Als ihr Vater am 3. Februar 1962 aus dem Gefängnis kam, musste er unter Bewachung das Haus in Döhren räumen. Die Familie wurde umgesiedelt nach Velsdorf. 1967, als Wilhelm Schenke Rentner war, durfte er mit seiner Frau legal ausreisen. Wilhelm und Lieselotte Schenke zogen zur Tochter nach Mackendorf. Über die Mauer hinweg konnte nun Wilhelm Schenke nach Döhren sehen, er konnte die Scheune des Hofes erkennen. Und auch nach Oebisfelde, wo er groß geworden war, konnte er hinüberschauen. Wilhelm Schenke wurde mit dem Leben nicht fertig. Einige Jahre, nachdem er nach Mackendorf gezogen war, nahm er sich das Leben. Den Hof in Döhren hatte er nie wieder betreten. Seine Frau hat nach der Wende noch mehrere Jahre in Döhren gelebt.
"Berlin ist dicht, da bauen sie eine Mauer"
Auch Ute Voß ist es nicht leicht gefallen, immer auf den Grenzzaun, streckenweise auf eine Mauer zu schauen. Umso mehr genießt sie es, jetzt wieder häufig nach Döhren fahren zu können. Umziehen aber wollte sie nicht. Döhren ist zwar ihr Zuhause, aber ihre Familie lebt in Mackendorf, und jetzt sind zwei Kilometer kein Problem mehr.
In Döhren hat sie sich dem Heimatverein angeschlossen. Auf dem großen Kornboden auf ihrem Hof befindet sich die Heimatstube, zu der mit der 1000-Jahr-Feier 2004 der Grundstein gelegt wurde. Neben bäuerlichen Utensilien sind hier auch viele Schautafeln zu sehen, zur Ortsgeschichte, zur Grenze und auch zu ihrer Familie. Alljährlich am ersten Sonntag im September wird auf Schenkes Hof, wie er nach wie vor heißt, ein Hoffest gefeiert, das der Heimatverein organisiert und zu dem mindestens doppelt so viel Gäste kommen wie das Dorf Einwohner hat. Am Sonntag, dem 4. September, ist es wieder soweit. Ab Mittag sind Gäste willkommen. In diesem Jahr wird die Tanz- und Trachtengruppe "De Steinbekers" aus Nordsteimke mit Tänzen und altem Handwerk für Unterhaltung sorgen. Holzschuhe und Mollen werden hergestellt, Seile gedreht, es wird gesponnen, gewebt und gestickt. Die Gäste kommen aus der ganzen Umgebung, denn es gibt keine Grenze mehr.
An den 13. August 1961 hat Ute Voß eine ganz besondere Erinnerung. Junge Leute aus Mackendorf saßen am 12. August, einem Sonnabend, abends noch lange in der Gaststätte. Ute Voß war in der Küche bei der Wirtin, als gegen 23 Uhr ein junger Mann die Gaststätte betrat. Er kam aus Everingen, hatte sich über die Grenze geschlichen und dann zu Fuß nach Mackendorf aufgemacht, wo seine Oma lebte. Doch es war schon spät und nur in der Gaststätte war noch Licht. Also übernachtete er bei Familie Voß, um am nächsten Morgen zur Oma zu gehen. Am Sonntag um 7 Uhr sagte jemand auf dem Hof: "Habt Ihr schon Nachrichten gehört? Berlin ist dicht, da bauen sie eine Mauer."
Als der junge Mann aus Everingen davon erfuhr, wurde er blass. Seine Eltern und der Bruder mit Familie waren nämlich früh nach Berlin gefahren, um dort über die Grenze zu gehen. Er war noch zu Hause geblieben und hatte das Vieh auch am Abend noch gefüttert, bevor er über die Grenze ging. Wäre tagsüber niemand mehr auf dem Hof gewesen und hätte das Vieh geblökt, wäre das Verschwinden ganz schnell bemerkt worden. Das hätte alles in Gefahr bringen können. Nach ein paar Anrufen war der junge Mann erleichtert. Seine Familie war sicher im Auffanglager Berlin angekommen.