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Zweiter Weltkrieg Die Toten aus dem Fallstein

Vor 75 Jahren wurden im Fallstein bei Osterwieck 17 deutsche Soldaten getötet. Ihre letzte Ruhe fanden sie erst Jahrzehnte später.

Von Mario Heinicke 15.05.2020, 12:10

Osterwieck l Rund drei Jahrzehnte standen die Kreuze an drei Stellen im Fallstein. Schwer zu entdecken an den Hängen abseits eines Weges unter dem Blätterdach des Waldes. Aufgestellt wohl in den 1970er Jahren, also zu DDR-Zeiten. „Die Toten mahnen! Erhaltet den Frieden!“ war darauf zu lesen, die Kreuze eingefasst mit einer Kette.

Hier ruhten Menschen. Mutmaßlich 16 Soldaten, allesamt SS-Männer, liquidiert offensichtlich durch Genickschuss. Das sagte zumindest ein Polizeiprotokoll aus, am 15. Juni 1945 vom Osterwiecker Polizeileiter Steiner verfasst.

Zwei Tage zuvor waren im Wald hinter dem Bismarckturm drei Massengräber entdeckt worden. Eines mit sechs Leichen, zwei mit jeweils fünf Toten. „Die Gräber waren nur flüchtig zugeschaufelt, so dass hier und da die Leichen teilweise erkennbar waren“, schrieb Steiner im Protokoll. Die englische Militärregierung habe angeordnet, die Leichen zur Verhütung von ansteckenden Krankheiten an Ort und Stelle tief genug zu beerdigen.

Das Polizeiprotokoll gab auch Auskunft über einen Täter. Die Erschießung soll auf Anordnung eines polnischen Hauptmanns, der zu der Zeit die polnische Polizei in Osterwieck befehligte, erfolgt sein.

Hintergrund: Am 11. April 1945 wurde die Stadt Osterwieck den amerikanischen Truppen übergeben. Nach deren Durchzug wurden die Osterwiecker von Polen bewacht. Ihr Hauptmann Anton R. war Stadtkommandant.

Jener Hauptmann soll die Erschießung angeordnet haben – „nach zuverlässigen Mitteilungen aus dem Kreis der Osterwiecker Einwohnerschaft und nach Andeutungen der Polen selbst“, wie es im Polizeiprotokoll hieß. „Die Leute wurden von den Polen in der Nähe von Osterwieck aufgegriffen, als im Harz noch Kämpfe stattfanden, und zunächst etliche Tage in der Zuckerfabrik hier gefangen gehalten. Eines Morgens wurde beobachtet, wie in aller Frühe ein Lkw die Zuckerfabrik in Richtung … Walde verließ. Auf diesem Lkw befanden sich SS-Männer mit Spaten versehen. Später ist der Wagen leer wieder zurückgekommen.“

Das Protokoll hielt zu sieben Leichen Erkennungsmerkmale, zu fünf auch Namen der Opfer oder Angehörigen fest. Eine 100-prozentige Identifizierung war jedoch in keinem Fall möglich.

Nach 1990, die DDR war Geschichte, fanden sich mehrere alte Osterwiecker zu einer Interessengemeinschaft Kriegsgräber im Fallstein zusammen. Ehemalige Kriegsteilnehmer, die es sich zur Aufgabe gemacht hatten, ihren alten Kameraden eine würdige letzte Ruhestätte auf dem örtlichen Friedhof zu geben.

Nicht um eine Kultstätte für Ewiggestrige zu schaffen, sondern das Grabkreuz solle „die Menschen ständig daran erinnern, dass das friedliche Miteinanderleben der Völker ein ständiger Kampf im Friedensprozess ist. Krieg zwischen Völkern ist das fürchterlichste Menschheitsverbrechen überhaupt.“ Das betonte seinerzeit Walter Reitzig, früher Chef der PGH Tiefbau, nun als Rentner einer der Motoren der Interessengemeinschaft. Aber es war den „alten Herren“, wie sie genannt wurden, auch ein Anliegen, die Identität der Toten zu klären und Hinterbliebenen Gewissheit über das Schicksal ihrer Angehörigen zu verschaffen.

Die Männer kämpften gut zehn Jahre gegen Widerstände und Befürchtungen, bis 2002 der Osterwiecker Stadtrat grünes Licht gab, die Toten unterm Waldboden zu suchen und auf den Friedhof umzubetten. Um nicht zuletzt Licht in ein dunkles Kapitel Stadtgeschichte zu bringen.

Doch bevor die Suchgrabungen im Oktober 2002 an den drei Kreuzen losgehen durften, musste noch eine Sondergenehmigung eingeholt werden. Denn diese Arbeiten liefen in einem Naturschutzgebiet.

Im Polizeiprotokoll von 1945 ist übrigens kein Tatzeitpunkt vermerkt. Ein damals 13-jähriger Augenzeuge soll aber den 9. und 10. Mai 1945 genannt haben. Nach Kriegsende also. Was die Tötung in ein ganz neues Licht rücken ließ.

„Ein Kriegsverbrechen“, stellte bei dieser ersten Suchgrabung deren Leiter Erwin Kowalke, Umbetter beim Deutschen Volksbund für Kriegsgräberfürsorge, fest. Damit lag er allerdings nicht richtig, wie sich später herausstellen sollte. Denn zur Tatzeit war der Krieg vorbei. Es handelte sich deshalb um Mord.

Bundeswehrsoldaten aus Blankenburg halfen bei dieser Grabung, die sich als ausgesprochen kompliziert erwies. Wegen des Naturschutz-Status‘ durfte nur mit Hacke und Spaten gearbeitet werden. Der Fallstein machte jedoch seinem Namen alle Ehre, nach wenigen Zentimetern ging es im Boden nicht mehr voran. Schließlich gab ein beaufsichtigender Naturschutzvertreter vor Ort die Einwilligung, dass der örtliche Bauhof mit einem Minibagger helfen darf.

Die Betonung liegt auf Suchgrabungen. Nach zwei Tagen Arbeit an den beiden Grabstellen, die nur einen Steinwurf auseinander lagen, war nichts gefunden worden, die Stimmung der Beteiligten auf dem Nullpunkt. Es gab von alters her differenzierte Aussagen, wo genau die Toten liegen könnten. Und die Gedenkkreuze waren ja erst Jahrzehnte später errichtet worden.

Der aus der Nähe vom Berlin kommende Erwin Kowalke verfügte über die jahrzehntelange Erfahrung von 20.000 Umbettungen. Anhand der Bodenschichten erkannte er, dass die Toten hier gelegen haben müssen, aber wohl irgendwann umgebettet wurden. Wohin? Am liebsten hätte die Suchmannschaft einen Graben zwischen den Kreuzen gezogen. Doch das wurde ihnen vom Vertreter der oberen Naturschutzbehörde verwehrt.

Die Beteiligten zogen ab auf den gegenüberliegenden Hang des Vockenberges, wo das dritte Kreuz stand. Und hier wurden tatsächlich in 80 Zentimetern Tiefe die Gebeine von sieben Soldaten gefunden. Dazu zwei Erkennungsmarken und ein Spaten.

Die neue Erkenntnis: Eine Marke stammte nicht von einem SS-Mann. Umbetter Kowalke analysierte vor Ort, dass die Männer verwundet waren und aus einem Lazarett kamen. Ermordet wurden sie durch Schüsse in den Hinterkopf. Sechs Soldaten waren zwischen 20 und 25 Jahre alt, einer um die 30 Jahre.

Die Gebeine der Sieben wurden am Volkstrauertag 2002 an einer vorbereiteten Stelle auf dem Friedhof unter großer Anteilnahme der Osterwiecker bestattet. Die Pastoren Johann Storzer und Stephan Eichner segneten die Toten. Doch noch immer warteten irgendwo im Fallstein mutmaßlich elf Tote auf ihre Umbettung.

Ein Kriegsverbrechen war es also nicht, das sich am 9. und 10. Mai 1945 im Fallstein abspielte. Sondern ein Verbrechen. Mord. Und der verjährt nicht. Was Staatsanwaltschaft und Kriminalpolizei auf den Plan rief. Unter ihrer Leitung wurden im Oktober 2004 im Naturschutzgebiet Gebeine von weiteren fünf Soldaten aufgespürt. Allerdings ohne irgendwelche Hinweise auf ihre Identität.

Im Dezember 2004 wurden die Unbekannten an der inzwischen ausgestalteten Gedenkstätte beigesetzt.

Die Kräfte hatten an beiden verbliebenen Kreuzen gesucht, aber nur an einem jene Fünf gefunden. An der dritten Stelle wurde also nichts entdeckt. War‘s das damit gewesen?

Ein Jahr später trat der Verein zur Bergung Gefallener in Osteuropa in Aktion. Er bot den Osterwiecker „alten Herren“ um Walter Reitzig, Heinz Barth und Hans Ballhause an, noch einmal an der bisher erfolglosen Stelle zu suchen. Mit Erfolg.

Wie sich zeigte, hatten die vergangenen Suchmannschaften das Grab einmal um zwei Meter verpasst und einmal nicht tief genug gegraben. Anhaltspunkt für den jetzigen Suchtrupp waren vier Kreuze, die in einigen Metern Entfernung in Bäume geritzt waren. Deren Kreuzungspunkt bildete die Grabstelle.

Geleitet wurde diese Aktion im Dezember 2005 von einem erst 26-Jährigen, Stefan Nowak aus Thale, dessen Großväter im Krieg an unbekannten Orten in Osteuropa gefallen waren. Die gefundenen Knochen wurden gleich vor Ort der Kriminalpolizei übergeben, die auch diese Suchgrabung begleitet hatte. Erkennungsmarken wurden nicht gefunden, nur ein Ring mit den Initialen „EP“, Kamm, Löffel, Schulterstück, Brille, Würfel, Taschenmesser – und zwei Projektile, mit denen die Soldaten erschossen wurden.

Die Ergebnisse: Es hatte sich statt 16 sogar um 17 Tote gehandelt. Ein Soldat konnte auf Grund der Erkennungsmarke zugeordnet werden. Dass die auf eine Zeugenaussage beruhende Tatzeit im Mai lag, bestätigte ein Pollengutachten der Rechtsmedizin von der zweiten Fundstelle. Die Suche nach dem Verbleib des mutmaßlichen Mörders blieb erfolglos. Die Ermittlungen wurden später eingestellt.

„Es ist gut, dass wir hart an der Sache geblieben sind“, sagte seinerzeit Walter Reitzig, bevor dieses Kapitel im Mai 2006 mit der Bestattung der letzten fünf Soldaten, die vor nunmehr 75 Jahren ihr Leben verloren haben, abgeschlossen werden konnte.