Krankheit mit 1000 Gesichtern Junge Frau aus der Börde wollte ein Baby und bekam MS
Sie saß im Rollstuhl, musste zeitweise sogar gefüttert werden und konnte auf einem Auge fast nichts mehr sehen. Die Nervenkrankheit Multiple Sklerose hat Daniela Lehmann in schwere Zeiten gestürzt. Warum die Klein Ammensleberin trotzdem bis heute keine Medikamente dagegen nimmt – und wie es ihr damit geht.

Haldensleben - Daniela Lehmann wollte morgens wie immer die Zeitung lesen, als sie merkt, dass mit ihrem linken Auge irgendetwas nicht stimmt. Sie reibt sich die Augen, aber der Schleier will nicht verschwinden. Weil es nicht besser wird, sucht die damals 23-Jährige eine Augenärztin auf. Die schickt sie nach der Untersuchung sofort weiter zur Neurologin. Ein MRT und eine Hirnwasseruntersuchung später steht fest: Daniela Lehmann hat Multiple Sklerose (MS) und erlebt gerade einen Krankheitsschub.
„Bei mir ging die Diagnosestellung sehr schnell, binnen zwei Wochen“, erinnert sich die gebürtige Klein Ammensleberin. Andere Patienten warten Wochen, Monate, mitunter sogar Jahre, bis alle Puzzleteile zusammengelegt sind und ein Arzt MS diagnostiziert. Das liegt daran, dass die Symptome so unterschiedlich, so unspezifisch, so diffus sein können.
Daniela Lehmann lehnt eine Therapie ab
Daniela Lehmann bekommt hochdosiertes Cortison, um den akuten Entzündungsherd in ihrem Körper einzudämmen und die Probleme mit ihrem Auge zu behandeln. Weitere Medikamente lehnt sie ab. „Ich habe mich gegen eine Therapie entschieden“, sagt die heute 51-Jährige. „Ich wollte zu diesem Zeitpunkt eigentlich ein Baby und keine MS“, ergänzt sie mit leichtem Augenzwinkern.
Ihr größter Wunsch geht in Erfüllung – sogar zweimal: 1997 kommt ihr erster Sohn zur Welt, das zweite Kind 2002. Während dieser fünf Jahre schlägt die Krankheit zwischendurch immer mal wieder mit kleineren Schüben zu. „Ich hatte zum Beispiel ein Taubheitsgefühl in den Händen, sodass ich nicht mehr richtig greifen konnte, oder so ein Kribbeln in den Fußsohlen“, erinnert sich Daniela Lehmann. Halten derartige Missempfindungen bei MS-Patienten länger als 24 bis 48 Stunden an, erklärt sie weiter, könne davon ausgegangen werden, dass es sich um einen erneuten Schub handelt.
Die kleineren Attacken zwischendurch bekommt Daniela Lehmann irgendwie in den Griff. Bis sie fünf Jahre nach der Diagnose ein sehr heftiger Schub trifft.
Plötzlich sacken ihr die Beine weg
Als die junge Frau morgens aufstehen will, sacken ihr unvermittelt die Beine weg. Sie kann nicht mehr laufen, ihr Mann muss ihr helfen, sich anzuziehen. Dann lässt sie sich in die Uniklinik nach Magdeburg fahren.
Das kribbelnde, lähmende Taubheitsgefühl steigt währenddessen noch weiter hoch bis zum Bauch. „Ich hatte auch kein Gefühl mehr in den Händen“, sagt Daniela Lehmann. Wieder bekommt sie hochdosiertes Cortison. Mehrere Gaben des Hormons sollte sie bekommen – doch mitten in der Behandlung bricht sie ab. „Das Cortison hat etwas mit mir gemacht“, versucht sie zu erklären. Etwas, das ihr nicht gut getan habe.
Wieder zuhause wird sie von nun an von einer Haushaltshilfe unterstützt. Sie selbst kann zu diesem Zeitpunkt weder laufen noch selbst die Gabel halten oder ihrem Baby die Flasche zubereiten. Ihr kleiner Sohn ist damals gerade sechs Monate alt, der große fünf Jahre. „Ich war völlig gelähmt und musste gefüttert werden“, blickt Daniela Lehmann zurück. „Was ich wirklich schlimm fand in dieser Schubphase, war, als mein Sohn mich umarmt hat und ich das nicht gespürt habe“, sagt sie. Als sie sich daran zurückerinnert, steigen ihr auch heute noch Tränen in die Augen.
So darf es nicht bleiben, sagt sich die junge Frau damals und fängt an, mit sich und an sich zu arbeiten. „Ich habe mich ’benutzt’“, erklärt Daniela Lehmann. Mit der einen Hand stützt sie in dieser Zeit zum Beispiel den anderen Arm, um sich selbst die Zähne putzen zu können. Arme und Beine kann sie zwar bewegen, aber nicht mehr gezielt greifen. Zusätzlich bekommt sie Physiotherapie. Was die Klein Ammensleberin schon bald wieder weglassen kann, ist der Rollstuhl.
Die Symptome akuter Krankheitsschübe können sich durch die Gabe von Cortison zurückbilden, erläutert Daniela Lehmann – es können aber auch lebenslange Einschränkungen zurückbleiben. Bei ihr sei der Schleier auf dem Auge nie wieder vollständig verschwunden. Zudem sei sie schneller erschöpft als andere und habe ein erhöhtes Ruhebedürfnis, auch Fatigue genannt. Aber: Seit 15 Jahren habe Daniela Lehmann keinen neuen MS-Schub gehabt.
Seit 15 Jahren kein neuer Schub mehr
Der bis dato letzte habe sich 2008 durch Schwindelattacken bemerkbar gemacht. Doch seitdem ist Ruhe. „Mir geht es super“, sagt die lebensfrohe Frau heute. Sie habe gelernt, mit ihren Kräften zu haushalten. Medikamente nimmt sie bis heute nicht.
Seit 2002 ist Daniela Lehmann frühzeitig berentet, einige Stunden in der Woche arbeitet sie aber noch in ihrem Beruf als Zahnarzthelferin. Daneben engagiert sie sich ehrenamtlich. Einmal im Monat kommt in Haldensleben unter ihrer Leitung eine MS-Selbsthilfegruppe zusammen. Zudem ist die 51-Jährige stellvertretende Vorsitzende des Landesverbandes der DMSG (Deutsche Multiple Sklerose Gesellschaft) und bereitet den Welt-MS-Tag in Sachsen-Anhalt mit vor. Für ihr Engagement ist sie sogar schon mit der Bundesverdienstmedaille ausgezeichnet worden.
Warum Krankheit mit 1000 Gesichtern?
Multiple Sklerose (MS) ist eine entzündliche Erkrankung des Zentralen Nervensystems, die das Gehirn und das Rückenmark umfasst und meist im frühen Erwachsenenalter beginnt. Die Krankheit lässt noch viele Fragen unbeantwortet und ist in Verlauf, Beschwerdebild und Therapieerfolg von Patient zu Patient so unterschiedlich, dass sich allgemeingültige Aussagen nur bedingt machen lassen. MS wird deshalb auch „Krankheit mit den 1000 Gesichtern“ genannt. Wichtig: Multiple Sklerose ist nicht ansteckend, nicht zwangsläufig tödlich, kein Muskelschwund und keine psychische Erkrankung. Quelle: dmsg.de