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Innenstadt-Test Vor der Nase und doch unerreichbar

Kommt ein Rollstuhlfahrer in Haldensleben ohne Probleme von A nach B? Die Volksstimme hat Carlos Schoof begleitet.

Von Annika Stock 07.04.2016, 01:01

Haldensleben l Carlos Schoof lebt seit zwei Jahren in Haldensleben. Der 18-Jährige, der in Magdeburg die zehnte Klasse besucht, sitzt im Rollstuhl. Damit ist er jeden Tag in Haldensleben unterwegs – meistens besucht er das Jugendfreizeitzentrum „Der Club“ in der Hafenstraße.

Mit seinem elektrischen Rollstuhl kann Carlos bis zu 33 Kilometer zurücklegen, danach muss die Batterie wieder aufgeladen werden. „Es ist etwas umständlich, dass Geschäfte wie beispielsweise die Apotheke nicht direkt in der Innenstadt liegen und man so größere Strecken fahren muss“, sagt Carlos über die Infrastruktur der Stadt.

Bei den Geh- und Fußwegen in der Stadt hat er kaum etwas zu bemängeln. „An manchen Stellen von Haldensleben komme ich aber schlecht den Bordstein hoch. Das ist zum Beispiel in Seitenstraßen der Fall, aber nicht so schlimm“, sagt der 18-Jährige. Doch das Hauptproblem sind die Eingänge der Geschäfte in der Fußgängerzone der Hagenstraße. „Das Kopfsteinpflaster stellt kein Problem dar. Doch ich komme fast nirgendwo in ein Geschäft hinein“, sagt Carlos. Wenn ein Absatz höher als vier Zentimeter ist, kommt er mit seinem Rollstuhl nicht weiter. Und zum Anheben ist sein Rollstuhl einfach zu schwer. Gut 150 Kilo bringt das Gefährt auf die Waage.

Aber was macht ein Rollstuhlfahrer, wenn er in so gut wie kein Geschäft in der Innenstadt hineinkommt? „Dann lässt man es“, sagt Carlos ernüchtert. Zwar sind die lebenswichtigen Geschäfte in Haldensleben für Rollstuhlfahrer leicht zugänglich, sei es der Supermarkt oder die Apotheke – die Läden der Einzelhändler in der Innenstadt sind selten barrierefrei zugänglich.

„Ich finde es schade, dass ich mit dem Rollstuhl nicht in den Buchladen komme und nur von außen die Bücher anschauen kann“, nennt Carlos ein Beispiel. Zwar kämen die Mitarbeiter zu ihm auf die Straße, „aber es ist natürlich doof, wenn man dann draußen steht und nicht bemerkt wird“, sagt Carlos. Er findet diesen Service gut, würde aber viel lieber selbst in den Buchladen kommen. „Wir wollten eine Rampe bauen“, erklärt Ursula Fricke vom Bücherkabinett dazu. „Aber das Haus ist ein Altbau, deswegen konnten wir die Rampe nicht bauen. Zudem würde sie zu weit auf die Straße ragen“, sagt sie. „Das Rausgehen ist kein Problem. Natürlich müssen die Kunden, die draußen warten müssen, mehr Geduld haben. Aber für uns war dieser Service eine Selbstverständlichkeit. Nicht nur Behinderte haben ein Problem mit den Stufen, sondern auch Mütter mit Kinderwagen“, erklärt die Ladeninhaberin.

Ein Paradebeispiel für einen behindertengerechten Zugang ist die Bäckerei Schäfer‘s in der Hagenstraße: Sie hat eine Rampe, die einfach über die Stufen des Eingangs gestellt werden kann. „Wir haben die Rampe seitdem wir hier sind, also seit 2008“, erklärt Nicole Sawa. „Wir haben sie für den Warentransport angeschafft, aber auch dafür, dass Behinderte über die Stufe kommen. Die ist ruckzuck mit wenigen Handgriffen aufgebaut“, sagt sie. „Einige Läden in der Hagenstraße haben das gut gelöst“, sagt Carlos anerkennend. Man müsse sich nur vorher bemerkbar machen, damit die Rampe aufgebaut wird.

Auch der Bioladen von Stefan Kosan ist nach dem Umzug von der Hagen- in die Holzmarktstraße behindertenfreundlicher geworden. Dort gibt es keine einzige Stufe mehr, wenn man den Laden betreten möchte. „Dieser Aspekt war mitunter einer der Hauptgründe, warum wir hierher gezogen sind“, so der Inhaber.

Auch Foto-Doermer will sich mehr auf die Kundschaft mit Kinderwagen und Behinderte ausrichten. Auf Nachfrage erklärt Besitzer Thomas Doermer: „Wir wollten auch eine Rampe bauen, diese würde aber zu steil werden. Deshalb werden wir nun ein Schienensystem für den zweiten Eingang umsetzen, welches in den nächsten vier bis sechs Wochen realisiert werden soll.“

Über die Hilfsbereitschaft der Haldensleber kann sich Carlos nicht beklagen: Keine zwei Minuten, nachdem er vor dem Eingang eines Geschäftes steht, spricht ihn ein Mann an, ob er helfen könne, damit Carlos in den Laden kommt. Der 18-Jährige lächelt. „Die Menschen hier sind sehr hilfsbereit. Mir wird oft Hilfe angeboten“, sagt er. Carlos hat jedoch auch schon schlechte Erfahrungen in Haldensleben gemacht. „Als ich mal mit dem Bus fahren wollte, haben zweimal Busfahrer gesagt, dass sie keine Rampe für mich haben. Dabei sind die öffentlichen Verkehrsmittel dazu verpflichtet, so ein Hilfsmittel an Bord zu haben“, ärgert sich der Rollstuhlfahrer.

Auch der Zutritt zum Rathaus ist kein Problem für ihn: Eine Tafel weist am Eingang darauf hin, dass ein behindertengerechter Zugang vorhanden ist. Dieser Zugang ist gesichert und nur mit einem „Euroschlüssel“ für Behinderte zugänglich, der ihnen den Zutritt zu öffentlichen Einrichtungen und Behindertentoiletten ermöglicht. Carlos probiert seinen „Euroschlüssel“ an dem Schlüsselloch aus. Und tatsächlich: Die elektrische Verriegelung der Tür reagiert, aber die Tür lässt sich nicht öffnen. Zum Zeitpunkt des Tests ist bereits Dienstschluss im Rathaus gewesen, somit ist der Zugang verwehrt geblieben.

„Meiner Meinung nach ist die Stadt ausreichend behindertengerecht. Trotzdem finde ich, dass manche Ladenbesitzer ruhig mal über eine Rampe nachdenken könnten. Ich verstehe nicht, warum sie das nicht tun. Das ist ja auch kein Nachteil für sie, und Kunden verlieren sie durch das Anschaffen einer Rampe auch nicht“, zieht Carlos ein Fazit. „Ich kann verstehen, dass eine Rampe nicht überall möglich ist. Aber das Thema Inklusion ist doch heutzutage wichtig. Ich fände es schön, wenn sich die Leute mehr Gedanken dazu machen würden“, meint der Rollstuhlfahrer.