Gedenktag Vermisst!

Zum Internationalen Tag der Vermissten hat die Volksstimme mit der Polizei und einem Psychologen in Haldensleben gesprochen.

Von Juliane Just 29.08.2020, 01:01

Haldensleben l „Seit einer bestimmten Zeit unauffindbar. Gesucht werdend. Verloren gegangen.“ So definiert das Rechtschreibwörterbuch Duden das Wort „Vermisst“. Tatsächlich geht die Bedeutung des Wortes tiefer, ist verbunden mit Schmerz, mit Hoffnungslosigkeit, mit Hilflosigkeit. Bis zur Vermisstenmeldung vergehen oft Stunden, in denen die Angehörigen bereits die schlimmsten Szenarien in ihren Köpfen wieder und wieder abgespielt haben. Und auch später kommen sie vielleicht nie zur Ruhe.

„Das Gefühl zu vermissen, kennt jeder von uns“, sagt Dr. Ulrich Sandmann, Chefarzt der Erwachsenenpsychiatrie im Ameos-Klinikum Haldensleben. Dabei kommt es jedoch darauf an, was wir vermissen. Man kann sein altes Telefon vermissen, mit dem man besser arbeiten konnte. Man kann eine Freundin vermissen, die nebenan wohnt, die man aber lange nicht mehr gesehen hat. Man kann Kindheitstage vermissen, in denen das Leben noch so unbeschwert war.

Geht es um Personen, die vermisst werden, spielt Emotionalität eine große Rolle. Dabei sind laut Ulrich Sandmann verschiedene Faktoren wichtig. Was hat mir der Vermisste bedeutet? In welchen Verhältnis stand man zueinander? Ging er für immer, weil er verstorben ist oder ging er fort und der Zurückgebliebene weiß nicht, wohin und ob er noch lebt? Ging er aus freien Stücken oder wurde er dem Angehörigen genommen?

Dass die Suche nach Vermissten in der Öffentlichkeit hohe Wellen schlägt, hat damit zu tun, dass jeder Mensch sich mit dem Vermissenden identifizieren kann, „weil man eben das Gefühl des Vermissens kennt“, so Sandmann. Dabei werden Nachrichten, bei denen hunderte Menschen in Kriegsgebieten der Welt gestorben sind, oft weniger wahrgenommen als jene von einzelnen Vermissten. „Die Kriegsnachrichten sind vielen von uns fern, da wir zum Glück nur den Frieden kennen“, erklärt Ulrich Sandmann. „Die Identifikation mit den Hinterbliebenen fällt mir ungleich schwerer als die mit den Vermissten.“

In Deutschland werden jährlich tausende Menschen vermisst. Grundsätzlich gilt ein Mensch als vermisst, wenn er seinen gewohnten Lebensbereich verlassen hat, wenn der derzeitige Aufenthaltsort unbekannt ist und wenn eine Gefahr für Leib und Leben angenommen werden kann. Dabei unterschiedet die Polizei zwei Kategorien von Vermissten, wie Matthias Lütkemüller, Sprecher des Polizeireviers Börde, erklärt: In Erwachsene und Minderjährige.

Erwachsene können demnach ihren Aufenthaltsort selbst bestimmen, ohne dies Freunden oder Bekannten mitzuteilen. Minderjährige haben dieses Recht nicht. „Deshalb wird hier immer für einer Gefahr für Leib oder Leben ausgegangen, auch wenn dem nur in den seltensten Fällen so ist“, so Lütkemüller.

Im Landkreis Börde wurden im vergangenen Jahr 297 Fälle laut Polizeidaten registriert. Im Vorjahr waren es 268 Fälle, 2017 insgesamt 277 Fälle. „Das sieht nach zahlreichen vermissten Personen aus, stimmt aber nicht ganz“, warnt Lütkemüller. Viele dieser Fälle seien auf in Betreuungseinrichtungen untergebrachte Jugendliche zurückzuführen, die nicht zur vereinbarten Zeit in der Unterkunft zurück sind. Dann werden sie als vermisst gemeldet. Sind sie gefunden, werden sie zurückgebracht. Der Fall ist geschlossen. „Wenn die Jugendlichen am Abend jedoch wieder fernbleiben, ist dies ein neuer Vermisstenfall“, so der Polizeisprecher.

Die zweite große Gruppe der vermissten Personen machen Senioren aus, die sich aus ihren Wohnungen und Pflegeeinrichtungen entfernen und nicht wieder zurückfinden oder zu schwach sind, um wieder zurückzukehren.

Unabhängig vom Alter der Vermissten wird im Fall der Gefahr für Leib und Leben die Suchmaschienerie der Polizei in Gang gesetzt. Dies kann die verschiedensten Maßnahmen umfassen, so Lütkemüller: „Von Suchhunden über Einsatzhundertschaften bis hin zu Spezialkräften und Hubschraubern und Wärmebildkamera kann alles eingesetzt werden.“

Gerade wenn Kinder vermisst verschwinden, werden oftmals ganze Ortschaften durchforstet. Für die Eltern und Angehörigen ist das eine schreckliche Zeit. Ungewissheit, Angst, Hilflosigkeit – oftmals kommt alles zusammen. In diesen Fällen können Notfallseelsorgen oder Psychotherapeuten unterstützen, in dem sie den Angehörigen zur Seite stehen. Wird das Kind oder der Angehörige jedoch länger vermisst, wird es für die Seele belastend.

„Zu den Gefühlen des Verlustes, der Trauer, der Sehnsüchte und Hoffnungen gesellen sich die Gefühle der Schuld und Verzweiflung in Verbindung mit Selbstvorwürfen – und damit umzugehen ist für die Vermissenden von besonderer Schwere“, erklärt Ulrich Sandmann. Die Angehörigen wissen nicht, wie es der vermissten Person geht oder ob sie überhaupt noch lebt. „Letzteres versuchen die Angehörigen auszuschließen, auch wenn rational vieles dagegen spricht“, so Sandmann. Sie halten nahezu bedingungslos an der Hoffnung fest, dass alles wieder gut wird.

In diesen Fällen ist es auch schwer, jemals abzuschließen. „Es ist leichter, Abschied zu nehmen, wenn dem Angehörigen das Ende des Vermissten bewusst ist. Dann wird es begreifbar“, erklärt der Chefarzt. Dabei ist es bei der Trauerbewältigung wichtig, dass der Vermissende seiner Hoffnung nicht beraubt wird, sie aber auch nicht geschürt wird. „Es sollte immer wieder versucht werden, die Fakten aus einer professionellen Distanz zu betrachten und einzubeziehen“, rät Sandmann. Wichtig ist, dass eine Rückkehr in ein weitgehend normales Leben wieder möglich wird. Die Problematik der Schuldgefühle und Selbstvorwürfen führe häufig in eine Depression, die dann auch spezifisch behandelt werden muss.