MDR-Musiksommer Chor aus Estland sorgt im Havelberger Dom für Hörgenuss
Der MDR-Musiksommer hat wieder einmal den Havelberger Dom für seine Musikreihe ausgesucht. Dieses Mal war ein Chor aus Estland zu Gast.

Havelberg - Immer wenn der MDR-Musiksommer in Havelberg zu Gast ist, kann man sicher sein, dass etwas besonders Hochkarätiges geboten wird. Diesmal aber haben sich die Veranstalter wohl selbst übertroffen.
Gregorianik und frühe polyphonische Musik sind in der Tat maßgeschneidert für den Dom zu Havelberg, und der estnische Chorleiter Jaan-Eik Tulve ist eine der wirklichen Koryphäen auf diesem Gebiet. Neben seiner Tätigkeit als Professor an der renommierten Akademie für Musik und Tanz in Talinn ist er als Chorleiter und Lehrer in ganz Europa aktiv.
Frühere Messen als Vorlage
Tulve kam mit seinem eigenen Ensemble, dem 1996 gegründeten Chor „Vox Clamantis“, aus Talinn. Und da gute frühe Musik, dargeboten mit den bekannt schönen Stimmen aus der berühmten estnische Singtradition, immer ein großartiges Hörerlebnis verspricht, waren ausnehmend viele fremde Gäste in den Dom gekommen.
Das Programm orientierte sich relativ streng an dem Ablauf des Gottesdienstes, so wie er sich seit dem frühen Mittelalter im Abendland entwickelt hat. Entsprechend war der Text überwiegend lateinisch, und es war sicher hilfreich, wenn man sich vor Beginn das Programmheft mit den Übersetzungen und der klugen, knappen Einführung von Bernhard Schrammek besorgt hatte. Zwei Ordnungen waren damals die Grundlage jeder Messe, überall in Europa: eine, der „Ordo“, war immer gleich (Chorsänger kennen die Texte, unzählige Komponisten haben sie schon vertont!). Die zweite Ordnung, das „Proprium“, hat für jeden Tag im Jahr eigene Texte festgelegt, meist kurze Psalmenverse und oft im gleichen Schema: erster Vers, zweiter Vers, Wiederholung erster Vers. Beide Ordnungen greifen ständig ineinander, und im Havelberger Konzert hatte man daraus einen wirklich komplizierten Ablauf gemacht.
Für die „Proprium“-Passagen hatte man schöne Beispiele aus der Gregorianik ausgewählt, sang „Alle-Solo-Alle“, einfach atemberaubend, herrlich. Für die festen Texte des „Ordo“ griff man auf die allererste mehrstimmige Gesamtkomposition dieser Messteile zurück, die großartigen Messe de Nostre Dame, komponiert kurz nach der Mitte des 14. Jahrhunderts für die Kathedrale Notre-Dame in Reims.
Neues und Altes
Allein das war schon berührend: Notre-Dame ist ja der seit dem Mittelalter im Französischen übliche Name für die Kirchen zu Ehren der Muttergottes, Maria. Und genau zu der Zeit, als dieses Werk zum ersten Mal in der faszinierenden Reimser Kathedrale erklang, strahlte auch unser Havelberger Mariendom in neuer, gotischer Pracht.
Es gibt noch mehr Berührungspunkte, denn Guillaume Machaut, der vielleicht berühmteste Dichter und Komponist seiner Zeit, war lange der Sekretär des Böhmenkönigs Johann, des Blinden, des Vaters „unseres“ Karls IV. Als ständiger Begleiter des reiselustigen Königs kannte Machaut Dichtung und Musik ganz Europas. In seiner Marien-Messe nimmt er gegen Ende seines Lebens all seine Erfahrungen und alles Musikwissen seiner Zeit – darunter die neue Notenschrift – zusammen und schafft ein Werk, das weit in die Zukunft weist. Natürlich arbeiten auch die zeitgenössischen Musiker mit den selben alten Texten, und so war es besonders reizvoll, die spätmittelalterliche Musik Machauts neben ein Werk des bekanntesten estnischen Komponisten Arvo Pärt, seiner 1977 entstandenen „Missa syllabica“, zu stellen. Pärt, im damals sowjetischen Estland geboren, hat schon früh auf der Suche nach idealen Ausdrucksmöglichkeiten zur Beschäftigung mit mittelalterlicher Musik gefunden und daraus einen ganz eigenen, sehr reduzierten und intensiven Klangstil entwickelt.
Jaan-Eik Tuve spiegelte die beiden so verschiedenen Klangwelten miteinander, sehr anspruchsvoll sowohl für die Sänger als auch für die Zuhörer. Drei weitere, neuere Kompositionen Pärts, eine kleine Litanei und eine Bibelerzählung für Mädchenchor in deutscher Sprache sowie ein litanei-ähnliches, beeindruckendes Gebet um Fürsprache an den Hl. Nikolaus, geschaffen zur Eröffnung des neuen World Trade Centers in New York 2021, vervollständigten die Reihe. Zusätzlich erklang als drittes Gloria ein neues Werk der 1972 geborenen estnischen Komponistin Helena Tulve.
Der Mitschnitt des Konzertes wird am 20. Juli ab 20 Uhr im Programm von MDR Klassik gesendet und ist danach im Internet nachzuhören.