1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Havelberg
  6. >
  7. In die Stadt Sandau ging es immer nur gruppenweise

Zeitgeschichte In die Stadt Sandau ging es immer nur gruppenweise

25 Jungen waren kurz vor Weihnachten 1944 die ersten, welche im jetzigen Caritas-Marienheim in Sandau einquartiert wurden. Zu diesen Kindern gehörte Werner Leuchtenberg.

Von Ingo Freihorst 29.09.2021, 16:05
Kirchenführer Wolfgang Hellwig zeigt Werner Leuchtenberg, wie der zerschossene Kirchturm vor dem Wiederaufbau aussah.
Kirchenführer Wolfgang Hellwig zeigt Werner Leuchtenberg, wie der zerschossene Kirchturm vor dem Wiederaufbau aussah. Fotos: Ingo Freihorst

Sandau - Ein Gast, welcher unfreiwillig anderthalb Jahre seiner Kindheit in der Elbestadt verbringen musste, wurde jetzt in der Sandauer Kirche herzlich begrüßt: Werner Leuchtenberg – damals elf Jahre alt – gehörte mit zu der Kindergruppe vom Niederrhein, welche kurz vor Weihnachten 1944 im Sandauer Heim einquartiert wurde. Damals gehörte das fast 20 Hektar große Anwesen am Elbdeich der Witwe Anna Rhomberg, deren Mann, der ehemalige Gesandte Edmund Rhomberg, kurz zuvor verstorben war. Er hatte das Anwesen der katholischen Kirche überschrieben, seine Frau besaß Wohnrecht auf Lebenszeit.

Begleitet worden waren die Kinder auf ihrer beschwerlichen Reise von den drei katholischen Ordensschwestern Marinella, Franzilla und Sebastiane vom Orden „Von der göttlichen Vorsehung“. Der jetzt in Tönisvorst lebende Werner Leuchtenberg, der von seiner Tochter Ute begleitet wurde, erinnerte sich an die Strapazen: „Wegen der vielen zerstörten Gleise und der dadurch bedingten Umwege waren wir eine ganz Woche lang unterwegs.“ Übernachtet wurde in Klöstern und Krankenhäusern. Unterwegs sah er kilometerlange Flüchtlingstrecks aus dem Osten.

Eine Woche im Zug unterwegs

Die Jungen kamen aus dem Kinderheim in Dülken am Niederrhein. Allerdings seien es nicht alles Waisen gewesen, stellte Werner Leuchtenberg klar. Er und seine beiden jüngeren Brüder waren ins Heim gekommen, weil ihre Eltern geschieden und der Vater im Krieg war. Doch waren Kinder aus zerrütteten Ehen unter dem Hitlerregime geächtet – offiziell waren es halt alles Waisen.

Natürlich hatte sich der Gast zuerst gleich im Heim umgesehen, berichtete er an der Kaffeetafel im Kirchturm. Sehr vieles habe sich verändert, doch das Klavier steht immer noch im Saal. Vor diesem Saal hatte sich damals eine Treppe befunden. Er selbst hatte bei der Hausherrin stricken gelernt – Socken und Pullover entstanden so. Und an noch etwas erinnert er sich: „Bei Fliegeralarm ertönte hier in Sandau immer das Horn.“

Kinder wurden alle im Heim unterrichtet

Unterrichtet wurden die Kinder im Heim, in die Stadt ging es immer nur gruppenweise. Im Keller vom Heim erlebten sie mit vielen anderen Sandauern auch den mehrtägigen Beschuss der Elbestadt. Nach Kriegsende wurde auf den Elbwiesen in den zerstörten Panzern gespielt und Fische mit Panzerfäusten „geangelt“. Die metertiefen Schützenlöcher der Soldaten auf dem Deich wurden mit allem verfüllt, was sich anfand.

Mit an der Kaffeetafel, welche Pfarrerin Catharina Janus organisiert hatte, saßen weitere Zeitzeugen: Hilla Ladwig, Ernst Busse sowie der in Sandau aufgewachsene Wilhelm Velten. Letzterer war im Mai 1945 zu Fuß von Berlin nach Sandau gekommen.

Hilla Ladwig berichtet, dass sie damals mit der Hausherrin, in Sandau als „Ministersche“ bekannt, gut ausgekommen war. Sie durfte sogar in deren Zimmer. Die Frau konnte sehr gut sticken und malen. Als polnische Soldaten Anfang Mai 1945 Sandau befreiten, wurde sie vor die Tür gesetzt.

Ernst Busse erzählt, wie gewitzt Schwester Franzilla gewesen sei: Die Rotarmisten hatten ihr Rad beschlagnahmt, sie benötigte es aber und ließ sich darum vom Kommandanten extra einen Zettel ausstellen. Als das Essen im Heim ausging, wollte man auf der anderen Elbseite in Sandauerholz Essbares holen. Dazu musste man aber über die bewachte Brücke, welche in Sandau aufgebaut worden war. Sie zeigte dem Posten nur den halben Zettel mit der Unterschrift vom Kommandanten– und alle durften passieren.

An der Kaffeetafel plauderten sie auf Einladung von Pfarrerin Catharina Janus (2. von links) über alte Zeiten: Wilhelm Velten, Wolfgang Hellwig, Maria Zohm, Hilla Ladwig, Ernst Busse und  Werner Leuchtenberg (von links).
An der Kaffeetafel plauderten sie auf Einladung von Pfarrerin Catharina Janus (2. von links) über alte Zeiten: Wilhelm Velten, Wolfgang Hellwig, Maria Zohm, Hilla Ladwig, Ernst Busse und Werner Leuchtenberg (von links).
Foto: Ingo Freihorst