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Kaserne Zurück in der Lungenheilanstalt

Auf Zeitreise in der Kaserne im Walde in Klietz. Heute Domizil für Soldaten, wurden hier nach dem Krieg Tuberkulose-Kranke behandelt.

Von Anke Schleusner-Reinfeldt 04.11.2019, 18:10

Klietz l „Das ist es!“ Irmgard Wolniks Augen leuchten, als das Auto auf das Haus 1 in der Klietzer Kaserne im Walde zurollt. Sofort sind die Bilder wieder da – eingeprägt vor 70 Jahren, als sie hier viele Monate in der Lungenheilstätte verbrachte. Auch wenn das Haus 1 gerade von Grund auf saniert und modernisiert wurde, so hat sich an seinem Antlitz doch kaum etwas verändert. Nur, dass nun Soldaten und Zivilbeschäftigte in den Zimmern sitzen, in denen einst die TBC-Kranken lagen.

Irmgard Wolnik, 87 Jahre alt und in Zeitz ganz im Süden Sachsen-Anhalts zu Hause, ist glücklich, den Ort noch einmal zu sehen, in dem sie anderthalb Jahre ihres Lebens verbrachte.

1945 nach der Flucht aus Oberschlesien in Zeitz gestrandet, erkrankt die zierliche junge Frau 1949 wie so viele andere Menschen auch an Tuberkulose. Der Arzt schickt die 17-Jährige in die Lungenheilstätte der Versicherungsgesellschaft Sachsen-Anhalt nach Klietz. Abschied von zu Hause für lange Zeit! Mitten im Wald befand sich das Haus, das Mitte der 30er Jahre als Angestelltenheim der Deutschen Sprengstoffchemie der Wasag errichtet worden war. Von 1936 bis 1945 wurde in den unweit entfernten Bunkern Treibladungspulver für V2-Raketen hergestellt. Während die nach Kriegsende demontiert wurden, richtete man hier zunächst ein Hilfskrankenhaus mit 120 betten ein. 1949 wurde daraus die Lungenheilstätte.

„Das vierte Fenster oben von links – da war mein Zimmer!“ zeigt Ingrid Wolnik ihren Begleitern. Das sind ihre Nichten Gerlinde und Gabi mit Ehemann Olaf. Sie erfüllten ihrer Oma einen großen Wunsch. Auch schon mehrfach in der alten Heimat Oberschlesien gewesen, hatte Irmgard Wolnik immer mal wieder von ihrer Zeit in Klietz erzählt und „da würde ich gern noch mal hin!“ Also googelten die Nichten, sahen den Ort am See aus der Luft und ein eingezäuntes Gelände. „Das muss es sein!“ Auf der Internetseite erfuhren sie mehr über den Ort. Große Hoffnung, tatsächlich auf das Bundeswehrgelände zu gelangen, machten sie sich nicht. Doch der Brief, den sie schrieben, landete auf dem Tisch von Presseoffizier Patrick Becker. Und der lud nach Rücksprache mit Kommandeur Oberstleutnant Michael Vormwald zur Besichtigung ein.

Mit großer Vorfreude machten sich die Zeitzer auf den Weg nach Klietz. Irmgard Wolnik kann sich an viele kleine Details erinnern, zeigt ein Foto von Dr. Bleckwenn als Leiter der Heilstätte zusammen mit den Krankenschwestern. „Alle waren sehr nett zu uns. Und das Essen war für diese Zeiten so kurz nach dem Krieg in Ordnung.“ Nur der immer wieder auf dem Tisch stehende Harzer Käse, „der stand uns schon bald bis oben!“ Deshalb haben die Patienten ihn gesammelt und dann im Päckchen nach Hause geschickt. „Bis sich die Post in Klietz beschwert hat, dass es aus den Päckchen so fürchterlich stinkt – da war es vorbei mit den Paketen.“

Rund 100 Patienten wurden in der Klietzer Heilstätte behandelt, zumeist Frauen, wie auf einem Gruppenbild zu sehen ist. Untergebracht waren sie in kleinen Zwei- oder etwas größeren Vierbettzimmern, „da passten wirklich nur die Betten mit Nachttisch, kleinem Kleiderschrank und ein Waschbecken rein, die Toiletten befanden sich auf dem Flur“.

In den Zimmern haben die Patienten die meiste Zeit verbracht. Denn es handelte sich um eine sogenannte Liegetherapie. Um 7 Uhr wurden alle via Lautsprecher in jedem Zimmer geweckt. Dann Frühstück im großen Speiseraum (das ist heute der Versammlungsraum); von 8.30 bis 9.45 Uhr liegen; Spaziergang im Wald oder zum See; 11 bis 12 Uhr liegen; 12 bis 13 Uhr Mittagessen; 13 bis 15 Uhr liegen und schweigen; eine Stunde frei; 16 bis 18 Uhr wieder liegen; Abendessen; liegen und ab 22 Uhr Nachtruhe.

„Jeden Tag das Gleiche. Das war schon anstrengend, denn es gab ja keine Fernseher oder irgendetwas, man sollte ja auch still liegen. Das haben wir alles gemacht, denn wir wollten ja gesund werden. Lediglich lesen war möglich. Am liebsten die Briefe von zu Hause.“ Und natürlich regelmäßig zum Arzt und röntgen, um die Gesundung zu verfolgen. Mehrfach mussten die Klietzer Patienten auch nach Jerichow ins Krankenhaus zur Behandlung. „Da in dem alten Haus war es nicht schön, wir waren immer froh, nach rund zwei Wochen wieder zurück in Klietz zu sein.“

Im März 1951 wird Ingrid Wolnik nach anderthalb Jahren entlassen. Gesund ist sie noch nicht ganz, „70 Prozent arbeitsunfähig“ bescheinigt der Arzt. Also zu Hause weiter schonen. Es geht stetig bergauf. Die junge Frau macht einen Steno-Kurs, anschließend eine Ausbildung zur Stenotypistin. Über 30 Jahre arbeitet sie als Sekretärin in der Zeitzer Stadtverwaltung. Und immer mal wieder gehen die Gedanken zurück nach Klietz. An den Ort selbst nicht, denn dorthin zu gehen, war für die TBC-Kranken ja nicht möglich. Aber an den See zum Spazieren.

Fast zwei Stunden Zeit nahmen sich Patrick Becker und der Zivilbeschäftigte Lutz Schehl, der auch alte Karten und Fotos zusammengetragen hatte, für den Besuch. Beim Rundgang durch das Haus konnte die 87-Jährige gute Vergleiche ziehen, hat sich doch am Grundriss nichts geändert.

Im Versammlungsraum wusste sie noch genau, wo ihr Stuhl stand und sie die Mahlzeiten eingenommen hat, „die Weihnachtsfeier hat hier auch stattgefunden“. Unten im Keller: „Das war der Röntgenraum. Wir Patienten standen alle der Reihe nach an, Dr. Bleckwenn hatte eine große Schürze um, einer nach dem anderen wurde durchleuchtet – jeder wusste also genau, wie der Gesundheitszustand der anderen war.“

Die Gäste erfuhren auch noch, wie es mit der Heilstätte weiterging: 1951 wurde die Tbc-Heilstätte der Kasernierten Volkspolizei und 1957 Schulungsobjekt der NVA. Zu Bundeswehrzeiten befanden sich hier Büros und auch Unterkünfte für Soldaten. Im vergangenen Jahr begann die umfassende Sanierung, nun sitzt hier der Stab der Kommandantur des Bundeswehrbereiches Ost und auch die Geländebetreuung ist hier untergebracht.

Familie Wolnik ist dankbar, dass die Bundeswehr ihr diesen Ausflug in die Vergangenheit möglich gemacht hat. Und die Seniorin hätte sich kein schöneres Geschenk zu ihrem 87. Geburtstag vorstellen können.