1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Havelberg
  6. >
  7. Zukunftskongress in Havelberg: Utopisch oder oldschool - Wie wollen wir morgen leben?

Zukunftskongress in Havelberg Utopisch oder oldschool - Wie wollen wir morgen leben?

Das Künstlerpaar Wolf Guenther Thiel und Anke Leonhardt hat in Havelberg eine alte Schule zu einem Ort zeitgenössischer Kunst umgebaut. Am Wochenende findet dort erstmals die „Utopienale“ statt. Politiker, Aktivisten, Künstler und Wissenschaftler aus acht Ländern diskutieren: Wie wollen wir morgen leben?

Von Yulian Ide 28.09.2022, 18:12
Auf den Spuren von Thomas Morus: Für die Grafikdesignerin Anke Leonhardt (56) und den Kulturwissenschaftler Wolf Guenther Thiel (56) ist Havelberg und ihre „Old School“ (im Hintergrund rechts) die wahrhaftige Insel Utopia.
Auf den Spuren von Thomas Morus: Für die Grafikdesignerin Anke Leonhardt (56) und den Kulturwissenschaftler Wolf Guenther Thiel (56) ist Havelberg und ihre „Old School“ (im Hintergrund rechts) die wahrhaftige Insel Utopia. Foto: Yulian Ide

Havelberg/Salzwedel - „Wenn ich einem Designer den Auftrag geben würde, die Stadt der Zukunft zu entwerfen, würde sich das Resultat wahrscheinlich nicht groß von Havelberg unterscheiden, da bin ich mir sicher.“ Wolf Guenther Thiel liebt seine Wahlheimat, das merkt man schnell. Er erzählt von Naturschutzgebieten und Biosphären an Elbe und Havel, die die Hansestadt zu allen Seiten umgeben, von ökologischer Forst- und Landwirtschaft, und den Windrädern am Horizont, die erneuerbare Energie liefern.

„Aber viele Leute hier merken gar nicht, in was für einer Utopie wir hier in Havelberg eigentlich leben“, unterbricht der Kulturwissenschaftler sich selbst. „Schon seit dem Mittelalter gibt es Selbstversorger-Gärten in Havelberg. Das ist doch toll“, erzählt er begeistert. Was es spätestens ab nächstem Wochenende auch in Havelberg gibt: einen Kongress, auf dem sich internationale Künstler und Experten unterschiedlicher Disziplinen darüber Gedanken machen, wie wir als Gesellschaft in Zukunft leben wollen. „Utopienale“ heißt die zweitägige Veranstaltung, die als diskursiver Ableger des Salzwedeler Kunstfestivals Wagen & Winnen entstanden ist und thematisch an das diesjährige Festivalmotto anknüpft.

Austragungsort ist die „Old School“, das alte Schulgebäude auf der Havelberger Stadtinsel, das Wolf Guenther Thiel vor rund acht Jahren gekauft hat und mit seiner Lebenspartnerin Anke Leonhardt bewohnt. Ursprünglich zu Beginn des 19. Jahrhunderts von einer Gerberfamilie erbaut, überlebte es den Havelberger Stadtbrand 1870 und die Weltkriege, bevor es zu DDR-Zeiten erst als Wohnheim für Vertriebene und ab den 1960er Jahren als Grundschule genutzt wurde.

Die englische Bezeichnung des Kunstortes prägten Freunde des Künstlerpaars aus Asien: „Sie nannten die alte Schule auf Englisch ‚old school‘ und uns gefiel die Doppeldeutigkeit des Begriffs“, sagt Wolf Guenther Thiel. Als „oldschool“ bezeichnet man in der Kunst auch vergangene Kulturgüter, die einerseits ursprünglich, aber auch in neuerer Zeit noch modisch sind.

Mitte der 2010er Jahre sind der gebürtige Rheinländer und die Pfälzerin von Berlin nach Havelberg gezogen. Er war anfangs nur auf der Suche nach einer erschwinglichen Immobilie in schöner Umgebung. Sie wollte eigentlich nur die Bundesgartenschau 2015 besuchen, lernte aber schnell zugezogene und einheimische Havelberger kennen, die sich in der Stadt engagierten und sie in ihre Projekte involvierten. Während ihres kulturellen Engagements in Havelberg lernten Wolf Guenther Thiel und Anke Leonhardt einander kennen und lieben. Schließlich wagte auch sie den Schritt von der Hauptstadt in die Provinz. Bereut haben sie es nicht.

In den Räumen der Old School stellen internationale Künstler ihre Werke aus. Experten aus Politik, Kunst, Kultur, Bildung und Wissenschaft diskutieren darüber, wie die Welt von morgen aussehen soll.
In den Räumen der Old School stellen internationale Künstler ihre Werke aus. Experten aus Politik, Kunst, Kultur, Bildung und Wissenschaft diskutieren darüber, wie die Welt von morgen aussehen soll.
Foto: Yulian Ide

„Kulturarbeit im ländlichen Raum ist immer auch Sozialarbeit.“ So beschreibt Wolf Guenther Thiel die größte Herausforderung, Einwohner einer Kleinstadt für Kunst- und Kulturangebote zu begeistern. Seine Partnerin widerspricht: „Ich sehe das etwas differenzierter. Ich verstehe schon, dass die Menschen hier eine größere Hemmschwelle haben. In Berlin ist es ganz normal, dass man in ein Haus eintritt und nachschaut, was drinnen los ist, sobald irgendwo eine Tür offen steht“, sagt die gelernte Grafikdesignerin.

„Aber die Leute hier fragen sich auch, was sie mit drei, vier Galerien von zugezogenen Berlinern anfangen sollen, während es auf der gesamten Stadtinsel keinen Supermarkt gibt. Gerade für ältere Menschen ist das ein großes Problem, wenn nicht mal die Nahversorgung gewährleistet ist.“ Für diese Menschen sei Havelberg in seiner heutigen Form noch weit davon entfernt, eine idealtypische Insel Utopia zu werden. Das heißt aber nicht, dass man nicht schon mal daran arbeiten könnte.

Am Wochenende findet die erste Utopienale in der Old School Havelberg statt.
Am Wochenende findet die erste Utopienale in der Old School Havelberg statt.
Foto: Yulian Ide

Die Vorbereitung der Utopienale in den vergangenen Tagen bedeuteten viel Stress für das Künstlerpaar. Immerhin werden Künstler, Politiker, Wissenschaftler, Aktivisten und Unternehmer aus acht Ländern anreisen. „Ich glaube, für viele in der Stadt sind wir nur ‚die Freaks‘ oder bestenfalls ‚die Künstler‘. Inzwischen können wir mit dieser uns zugeschriebenen Rolle ganz gut leben“, sagt Wolf Guenther Thiel. Wer weiß, vielleicht kommt nach dem Wochenende noch die Rolle „Zukunftsgestalter“ hinzu.

Die Utopienale findet am Freitag (30.9.) und Sonnabend (1.10.) in der Old School, Schulstraße 3 in Havelberg, statt. Der Auftakt findet am Freitag, den 30. September, um 11:00 Uhr im Rathaus Havelberg statt. Um Anmeldung per Mail wird gebeten: office@icatat.de. Weitere Infos unter www.icatat.de.

Was ist eine Utopie?

Vor 500 Jahren hat der Engländer Thomas Morus ein Buch geschrieben über eine Reise zu der ausgedachten Insel Utopia. Dort lebte ein reiches und glückliches Volk in einer friedlichen Gesellschaft. Indem er seine Geschichte an einem weit entfernten Ort oder in einer anderen Zeit spielen lässt, konnte der Autor versteckt Kritik an den Lebensverhältnissen in Europa äußern.

Das Buch war so erfolgreich, dass das Wort „utopisch“ in den täglichen Sprachgebrauch übergangen ist. Man meint damit meistens eine ideale, aber bisher unerreichte Zukunft. Der Roman von Thomas Morus war nur der Anfang von einer ganzen Reihe „utopischer“ Erzählungen, darunter Robinson Crusoe und das Märchen Schlaraffenland. Auch Science-Fiction- und Fantasy-Filme sowie Serien wie Star Wars, Herr der Ringe und Futurama sind im Grunde Utopien.