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30 Jahre Mauerfall Mit dem Sonderzug in die Freiheit

Dass die Mauer gefallen ist, hat der Magdeburger Helmut Kunath am 9. November 1989 im Zug erfahren - am letzten Tag seiner Flucht.

Von Ivar Lüthe 09.11.2019, 00:01

Magdeburg l Helmut Kunaths Flucht beginnt in der Nacht zum 3. November ’89 gegen 2 Uhr. Der 39-jährige Kellner im „Weinstudio Grün-Rot“ am Hasselbachplatz in Magdeburg hat gerade Feierabend gemacht, als er spontan den Entschluss fasst, die DDR zu verlassen und über die Prager Botschaft der Bundesrepublik in den Westen zu reisen.

„Ich kann nicht sagen, warum ausgerechnet an diesem Tag. Es war für mich einfach der richtige Zeitpunkt“, sagt er. Es war auch ausgerechnet der Tag, an dem die ČSSR-Behörden den DDR-Bürgern, die bereits seit August in der Botschaft Zuflucht suchten, die unreglementierte Ausreise in den Westen erlaubten. Doch zu dem Zeitpunkt konnte Kunath das noch nicht wissen.

Zu Hause berichtet er seiner Frau von seinem Vorhaben. Beide verabreden, dass sie ein halbes Jahr später nachkommen soll, wenn er es geschafft und eine neue Existenz im Westen aufgebaut hat. Hastig wird ein Koffer gepackt und noch etwas Geld eingesteckt. Dann geht Kunath zum Bahnhof. Über Leipzig will er nach Dresden fahren, von dort weiter nach Prag.

Am Vormittag kommt Kunath auch in Dresden an. Er kauft sich Hin- und Rückfahrttickets nach Prag. „Ich musste ja hin und zurück kaufen, sonst wäre ja aufgefallen, dass ich gar nicht mehr zurück will“, sagt Kunath. So weit klappt auch zunächst alles. Doch dann geht sein Plan nicht mehr so auf, wie er es sich ausgemalt hatte.

„Ich wollte in Dresden noch ein paar Kronen umtauschen, damit ich in Prag etwas Geld habe. Aber dazu bin ich gar nicht mehr gekommen, weil in dem Moment, als ich Geld tauschen wollte, fuhr ein verspäteter Zug nach Prag in den Bahnhof ein. Ohne zu überlegen, bin ich sofort eingestiegen“, erinnert sich der Magdeburger.

Der Zug war voll mit Reisenden, Kunath aber findet noch einen Platz. Als er im Abteil sitzt, kriecht zum ersten Mal Angst in ihm hoch. „Ich hatte kein tschechisches Geld umgetauscht, nur DDR-Mark – und 200 D-Mark im Schuh versteckt. Und die brannten wie Feuer“, erzählt Kunath.

In Bad Schandau stiegen Zöllner in den Zug ein, die Kontrolle begann. „Im Zug wurde es gespenstisch leise. Man hätte die sprichwörtliche Stecknadel fallen hören können. Das hat mich gewundert. Später wusste ich, warum es so sehr leise war“, sagt der Magdeburger.

Die Zollkontrolle dauerte eine gefühlte Ewigkeit. In Usti nad Labem sind die Zöllner dann ausgestiegen. „Als der Zug weiterfuhr, brach plötzlich unheimlich starker Jubel aus – fast alle im Zug hatten das gleiche Ziel: die BRD-Botschaft in Prag. Sie wollten auch ausreisen!“, erzählt Kunath.

Im Abteil von Kunath schließen alle Freundschaft, wollen so lange es geht zusammenbleiben, bis sie in der Botschaft sind. Nur ein junger Mann im Abteil versteht plötzlich die Welt nicht mehr. „Es war ein junger Mann aus London, der gerade auf Weltreise war und bis Australien wollte. Ihm haben wir erklärt, was gerade passiert.“

Zur Erinnerung schenkt der junge Mann Kunath einen Dollarschein, unterschreibt darauf. Es soll eine Erinnerung an den besonderen Tag sein. Bis heute hat der Magdeburger ihn aufgehoben, hinter Glas hängt er in seiner Wohnung.

In Prag angekommen, nimmt sich die Gruppe aus Kunaths Abteil gemeinsam ein Taxi zur Botschaft. „Der Taxifahrer hat an dem Tag das Geschäft seines Lebens gemacht, viele der DDR-Bürger wollten das DDR-Geld nicht behalten. Sie glaubten fest daran, dass sie es bis in die Botschaft schaffen, und gaben ihm ihr letztes DDR-Geld“, berichtet Kunath.

An der Botschaft angekommen, standen die Ausreisewilligen vor verschlossenen Türen. Und da kam sie plötzlich wieder auf – die Angst, was nun passieren würde. „Nach längerer Wartezeit ging die Tür jedoch auf und die Massen strömten in die Botschaft“, erinnert sich der Magdeburger.

Drinnen angekommen, habe sich jeder einen freien Platz gesucht. „Es regnete stark, der Boden war nur Lehm und überall standen Pfützen. Ich habe einen Platz unter einem Malteser-Hilfszug gefunden, wo es einigermaßen trocken war. Dann wurden wir sehr gut mit Essen versorgt“, berichtet Kunath.

Die Neuankömmlinge sollten dann ihre Personalausweise abgeben, weil Vorbereitungen für neue Papiere getroffen werden sollten, hieß es. „Aber dazu ist es nicht mehr gekommen, weil in den nächsten Tagen immer mehr Menschen in die Botschaft strömten. Zu viele, um an den Dokumententausch-Plänen festzuhalten“, meint Kunath.

Mehrere Tage muss Kunath in der Botschaft in Prag noch ausharren, bis es am 9. November heißt, es stehen Busse bereit, die die DDR-Bürger zu Sonderzügen mit Ziel Bundesrepublik bringen sollen. „Das war so gegen 14 Uhr. Vor der Botschaft standen sehr viele Busse“, erinnert sich der Magdeburger.

„In den Zügen selbst herrschte keine gute Stimmung. Die Türen waren abgeschlossen und es hieß, dass sich im Zug wohl Deserteure der Armee aufhalten würden, die von der Polizei herausgeholt werden sollten. Doch glücklicherweise passierte gar nichts. Wer weiß, ob das Gerücht überhaupt stimmte“, erzählt Kunath.

Während der Fahrt wundern sich Kunath und seine Mitreisenden darüber, dass „sehr, sehr viele Autos auf den Straßen zu sehen waren. Durch ein kleines Kofferradio haben wir dann erfahren, dass die Grenzen geöffnet waren. Wir konnten das erst gar nicht glauben“, sagt der Magdeburger.

Nach langer Fahrt war der erste Bahnhof, wo dann auch die Türen geöffnet wurden, die Stadt Hof im Nordosten von Bayern. „Ich kann nicht beschreiben, was das für ein Empfang dort war. Was ich dort erlebt habe, werde ich mein Leben lang nicht vergessen: Der Bahnhof war voll mit Menschen, die uns empfangen wollten. Alle hatten irgendetwas dabei – Kaffee, Tee, Milch, Süßigkeiten und vieles mehr. Selbst zwei Brautpaare samt Brautkleid habe ich dort gesehen.“

Das bayerische Hof war jedoch nicht das Ziel des Zuges. Es ging weiter bis nach Paderborn. Die Fahrt endete im Bundesfeldlager Paderborn-Sennelager. In der Kaserne wurden Kunath und einige seiner Mitreisenden zunächst untergebracht. „Von dort aus bin ich dann nach Düren gefahren und habe mich dort beim Arbeitsamt gemeldet. Aber ich wurde wieder weggeschickt, weil so viele Menschen übergesiedelt waren, dass das Arbeitsamt die Sprechstunden in der Kaserne abhalten wollte“, berichtet der Magdeburger.

Auf seinem Rückweg sei er dann in eine Gaststätte gegangen – und hatte, wie er sagt, großes Glück: „Der Wirt war der Gastronomiechef für Nordrhein-Westfalen. Durch ihn konnte ich in Jülich im Hotel Kaiserhof eine Anstellung finden“, erzählt Kunath, der sein Glück noch immer nicht so recht fassen kann.

Am 12. November 1989, neun Tage nach Beginn seiner Flucht, hatte er im Westen Arbeit gefunden. Es war nicht leicht, sich zurechtzufinden, denn Kellner im Weinkeller in Magdeburg und nun Angestellter in einem Hotel im Westen – das seien schon riesige Unterschiede gewesen, sagt er. Aber er habe es nie bereut, all das auf sich genommen zu haben.

Nach nicht ganz einem halben Jahr reiste auch seine Frau ihm nach. Aber sie sei im Westen nicht glücklich gewesen und wieder zurück nach Magdeburg gegangen. Kunath selbst blieb etliche Jahre im Westen. „Ich hatte überhaupt nicht die Idee, zurückzugehen“, sagt er. Doch 2006 kommt er wieder zurück nach Magdeburg. „Persönliche Gründe“ hätten den Ausschlag gegeben. Mehr möchte er dazu nicht sagen.

Am 9. November 2019, am 30. Jahrestag seiner Flucht aus der DDR, blickt er nochmals zurück auf seine Geschichte. „Ich hatte unheimliches Glück. Es war wohl Fügung, dass alles so gelaufen ist“, sagt er nachdenklich. Und schiebt nach: „Ich werde mich im Hotel Kaiserhof in Jülich melden. Die Chefin ist heute noch dort, es ist ein Familienbetrieb. Ich möchte mich bedanken.“