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Dr. Gunther Gosch: "Kassenversicherten Kindern wird der medizinische Fortschritt vorenthalten" Grippeschutz: Magdeburger Kinderarzt klagt "skandalöse" Ungleichbehandlung an

Von Katja Tessnow 12.10.2012, 03:11

Für Kinder und Jugendliche ist ein neuer Grippeschutzimpfstoff auf dem Markt. Er wird ohne Spritze einem Nasenspray gleich verabreicht und - viel entscheidender - er schützt deutlich besser vor einer Erkrankung. Allein: In Sachsen-Anhalt ist er gesetzlich Versicherten nicht zugänglich. Es sei denn, sie zahlen drauf.

Magdeburg l Dr. Gunther Gosch geht die sprichwörtliche Hutschnur hoch, wenn das Thema auf die Grippeschutzimpfung kommt. Der prominente Magdeburger Kinderarzt ist ein ausgewiesener Experte in Sachen Impfschutz und gehört dem Vorstand des Arbeitskreises Impfen der Landesvereinigung Gesundheit an. Er sagt: "Nicht nur angesichts der Milliardenrücklagen der Gesetzlichen Krankenversicherung halte ich es schlichtweg für einen Skandal, dass in Sachsen-Anhalt privatversicherte Kinder Besserverdienender mit einem hochwirksamen Impfstoff schmerzlos vor der Grippe geschützt werden können, kassenversicherten Kindern und Jugendlichen jedoch der medizinische Fortschritt vorenthalten wird."

Konkret bezieht sich Goschs Vorwurf - er wird von Kinderärzten und Impfexperten bundesweit geteilt - auf den Einsatz des neuen Grippeschutzimpfstoffs "Fluenz", besser gesagt, auf dessen Nichteinsatz bei Kassenpatienten.

"Fluenz" ist ein sogenannter Lebendimpfstoff (enthält geringe Mengen funktionsfähiger Keime) in Form eines Nasensprays. Wissenschaftliche Studien bescheinigen ihm, bei Kindern und Jugendlichen einen deutlich erhöhten Schutz vor Erkrankung zu erzeugen als die herkömmlichen Totimpfstoffe in Spritzenform. Sie verhelfen nach Meinung vieler Experten im Gegenteil gerade Kleinkindern nur unzureichend zur Immunisierung.

Grund dafür, dass Gosch und seine Kollegen in Sachsen-Anhalt (auch in weiteren Bundesländern) den modernen Impfstoff bei der großen Mehrheit ihrer kleinen Patienten, nämlich bei den gesetzlich krankenversicherten, nicht einsetzen dürfen, sind Rabattverträge, welche die Kassen im Sinne einer wirtschaftlichen Arbeitsweise seit 2010 für die Belieferung mit Grippeschutzimpfstoffen abschließen. Sie berücksichtigen nur eine denkbar kleine Auswahl von herkömmlichen Impfstoffen (eben nicht "Fluenz"), die obendrein auch nur von ausgewählten Apotheken bezogen werden dürfen (für alle Magdeburger Praxen ist eine Apotheke aus dem südniedersächsischen Northeim exklusiver Lieferant). Die Folge sind neben dem von Gosch beklagten Zwang zur Verabreichung weniger wirksamer Impfstoffe gelegentliche Lieferengpässe.

Vertreter gesetzlicher Kassen verteidigten erst unlängst auf Volksstimme-Nachfrage die aktuelle Praxis in Sachen Grippeschutzimpfung ("Nasalen Impfstoff zahlt Kasse nicht", Vst. v. 28. September), da die "zur Verfügung stehenden Impfstoffe langjährig erprobt" seien (AOK-Sprecher Andreas Arnsfeld) und der neue nasale überdies für kranke oder geschwächte Senioren, die in die Nähe frisch geimpfter Kinder gelangten, "sehr gefährlich" sein könne (Barmer-Sprecher Thomas Schmid).

Goschs Empörung über solche Statements könnte größer kaum sein. "Der neue und deutlich wirksamere Impfstoff ist seit 2003 in den USA im Einsatz und etwa 50 Millionen Mal erfolgreich verimpft worden. Warnungen im Umgang mit frisch Geimpften beziehen sich auf schwer immungeschwächte Menschen wie zum Beispiel frisch Knochenmarktransplantierte." Zögen Kassen solche Argumente wie das vom "gefährlichen" Impfstoff heran, zeuge das von wenig Sachverstand und solle "bewusst verunsichern, um davon abzulenken, dass die gesetzlichen Krankenkassen Kindern und Jugendlichen den hochwirksamen und verträglichen Impfstoff nicht bezahlen wollen".

Mathias Tronnier, Geschäftsführender Vorstand der Kassenärztlichen Vereinigung Sachsen-Anhalt, ist über den Streit zum Thema Grippeschutzimpfung im Bilde und teilt prinzipiell Goschs Auffassung: "Wenn Ausschreibungen und Rabatt-Verträge dazu führen, dass die Breite von sinnvollen Versorgungsmöglichkeiten für Patienten eingeschränkt wird, kann man nicht dafür sein." Bei der Grippeschutzimpfung sei das offenbar der Fall.

Die Realität in den Kinderarztpraxen von Gosch und Kollegen sieht aktuell so aus: Privatversicherten Kindern, deren Eltern dies wünschen, wird der neue Impfstoff in die Nase gesprüht. Das Kind ist bestmöglich geschützt und musste nicht einmal den ungeliebten "Piks" über sich ergehen lassen. Die Privatkasse zahlt. Selbstverständlich rät Gosch, auch gesetzlich krankenversicherte Kinder gegen die durchaus gefährliche Grippe impfen zu lassen. Ihre Eltern können wählen: "Piks" ohne Zuzahlung oder Spray gegen Bares? Sie stehen vor der Entscheidung für eine weniger wirksame Impfung, mit leichten Schmerzen verbunden, und der moderneren Variante, schmerzfrei und schützender. Entscheiden sich Eltern für letztere Variante, müssen sie etwas über 20 Euro zahlen. Ihre Krankenkasse spart das Geld für den Impfstoff komplett.

Dr. Gunther Gosch fühlt sich mit Blick auf die ihm diktierte Ungleichbehandlung an die Grenzen seiner ethischen Verantwortung als Arzt geführt. Er verweist auf das Grundgesetz, das eine Schlechterstellung Bedürftiger beim Zugang zu medizinischer Versorgung verbietet.

Die Redaktion hat das Sozialministerium am Montag um eine Stellungnahme zum Thema gebeten. Sie ist angekündigt, stand aber bei Redaktionsschluss für diesen Beitrag noch aus.