1. Startseite
  2. >
  3. Lokal
  4. >
  5. Nachrichten Magdeburg
  6. >
  7. Magdeburger Historiker twittert über Schicksale von NS-Opfern

#OnThisDay Magdeburger Historiker twittert über Schicksale von NS-Opfern

Von Konstantin Kraft 01.05.2021, 08:15
Links ein Tweet von Pascal Begrich über den antisemtischen Aprilboykott von1933 in Magdeburg, rechts das Mahnmal für die zerstörte Synagoge der jüdischen Gemeinde.
Links ein Tweet von Pascal Begrich über den antisemtischen Aprilboykott von1933 in Magdeburg, rechts das Mahnmal für die zerstörte Synagoge der jüdischen Gemeinde. Foto: Konstantin Kraft

Magdeburg

Kranzniederlegungen und mahnende Worte. Wenn es um das Erinnern geht, bleibt davon im Alltag wenig übrig. Kaum hält jemand bewusst an einer der Gedenkstätten in der Stadt inne. Hinzukommt, dass sich die Barbarei der Nazis nicht alleine in Deportation und Mord widerspiegeln, sondern in den alltäglichen Bösartigkeiten und Diskriminierungen. Neue Formen des Erinnerns sind gefragt.

Erkennbarmachen der Opfergeschichten

Der Historiker Pascal Begrich hat eine Chronik mit alltäglichen Verbrechen während der NS-Zeit in Magdeburg erarbeitet. Sie umfasst aktuell gut 200 Meldungen aus der Zeit zwischen 1933 und 1945. Im Fokus stehen die Schicksale der Opfer von Verfolgung und Ausgrenzung sowie die Mechanismen, die dazu geführt haben. Zu den jeweiligen Jahrestagen veröffentlicht Begrich die Ereignisse beim Kurznachrichtendienst Twitter im Internet. Sie offenbaren den steten Radikalisierungsprozess der Nazi-Ideologie vom Boykott jüdischer Geschäfte über Zwangshaft und Deportation, bis hin zum systematischen Mord.

Zugleich lassen diese kurzen Tweets mit dem Hashtag (# OTD) „On this day“ (An diesem Tag), jeder nicht länger als 280 Zeichen, die Möglichkeit einer anderen Erinnerungskultur im digitalen Zeitalter aufscheinen, die über gewohnte Rituale hinausgeht. „Mir geht es um das Erkennbarmachen und die Verortung der Opfergeschichten in der Stadtlandschaft, die Erinnerung an die Schicksale und um das Verfügbarmachen der Ereignisse in der Auseinandersetzung mit der rechtsextremen Instrumentalisierung der Geschichte in der Gegenwart“, sagt Pascal Begrich. Eine Auswahl der Tweets aus diesem Monat.

Boykott, Durchsuchung, Schauprozess und Mord

1. April 1933: „Auf dem Breiten Weg und vielen anderen Straßen verfolgen Schaulustige den Boykott jüdischer Geschäfte.“ SA und SS beziehen vor den Geschäften Stellung. Sie sollen potenzielle Kunden abschrecken. „Schilder von Arztpraxen und Anwaltskanzleien werden mit roten Zetteln beklebt, auf denen 'Achtung Jude' zu lesen.“ Geschäfte wie das Kaufhaus Barasch und Schuhhaus Rheingold müssen schließen.

2. April 1933: In der Nacht zum 3. April dringen mehr als 60 Mitglieder der SS in das Geschäftshaus der Volksstimme ein, zahlreiche Materialien werden beschlagnahmt. Am 5. April werden die entwendeten Schriften der Volksstimme und des sozialdemokratischen Verlagshauses Pfannkuch & Co. auf dem Domplatz verbrannt.

2. April 1941: Die unter Depression leidende und zwangssterilisierte Else R. aus Magdeburg wird von der „Landesheilanstalt Uchtspringe in die 'Euthanasie'-Anstalt Bernburg verlegt und ermordet.“ Ihre Mutter erhält eine gefälschte Todesurkunde.

8. April 1935: Albert Hirschland, Schulleiter der Kaufmännischen Privatschule Magdeburg, wird unter dem Vorwurf der „Rassenschande“ verhaftet. „Dem zum Protestantismus konvertierten Juden werden sexuelle Beziehungen mit 'arischen' Schülerinnen vorgeworfen.“ Im Juni beginnt gegen Hirschland der erste antisemitische Schauprozess in Magdeburg.

11. April 1933: Eine Menschenmenge fällt im Justizpalast an der Halberstädter Straße über jüdische Rechtsanwälte her.

Entlassung, Zwangshaft und Deportation

14. April 1942: 153 Jüdinnen und Juden werden in das Warschauer Ghetto deportiert. „Sie treffen dort am 16. April ein.“ Es ist die erste von neun Deportationen aus Magdeburg.

18. April 1942: Die Sintezza Berta F. wird in Colbitz aufgegriffen und in die Haftanstalt nach Magdeburg-Neustadt überführt. Sie hatte sich über das Reiseverbot hinweggesetzt. Um den Lebensunterhalt ihrer Familie sicherzustellen, verkaufte sie als reisende Vertreterin Spitzendeckchen.

21. April 1938: Im Rahmen der Aktion „Arbeitsscheu Reich“ werden bei einer ersten Verhaftungswelle 70 Männer - überwiegend Obdachlose und Nicht-Sesshafte - inhaftiert. 27 werden später nach Buchenwald überstellt.

23. April 1942: Das Oberfinanzpräsidium Magdeburg bestätigt den Eingang aller Begleitakten zu den am 14. April deportierten Jüdinnen und Juden. „Die Akten dienen der Vorbereitung für die Maßnahmen zur Konfiszierung ihres verbliebenen Vermögens.“

24. April 1933: „Der neue Magistrat von Magdeburg beschließt die Entlassung der Bürgermeister Reuter und Goldtschmidt, des Stadtkämmerers Pulvermann, des Stadtmedizinalrats Konitzer, des Stadtschulrats Löscher sowie der Stadträte Haupt und Wittmaack.“ In den ersten Monaten nach der nationalsozialistischen „Machtergreifung“ werden in Magdeburg Hunderte, vor allem sozialdemokratische, Angestellte entlassen.

„Historiker mit Blick auf die Gegenwart“

In seiner Twitter-Biografie beschreibt sich Pascal Begrich als „Historiker mit Blick auf die Gegenwart.“ Rund 800 Menschen folgen ihm derzeit. Manche Tweets werden tausendfach geklickt, erzählt er, andere finden kaum Beachtung. Um die Meldungen zu sammeln, hat Begrich die vorhandene Forschungsliteratur zur NS-Zeit studiert. In seiner Magisterarbeit hat er sich mit der Zwangsarbeit in Magdeburg beschäftigt. Er weiß zu berichten, dass es in der Stadt einst viele Tausende Zwangsarbeiter gab. „Meine eigene geistige Leistung ist es, die Meldungen zusammenzutragen“, sagt Begrich. „Man kann das ganze Jahr über Spuren finden.“

Ungefähr 200 Chronik-Meldungen liegen bis jetzt vor. Im Schnitt also für mehr als jeden zweite Tag im Jahr eine. Abgeschlossen ist die Recherche noch nicht. „Es bleibt ein Prozess.“ Zu den Jahren 1933 sowie 1944 und 1945 liegen die meisten Einträge vor. Gemein ist allen, dass sie sich auf die Schicksale der Opfer fokussieren. Es gibt viele kleine Meldungen. Aber keine davon ist banal. Jede zeigt für sich die Willkür des Systems. Die Botschaft: Die Verbrechen der Nationalsozialisten lassen sich nicht auf wenige große Ereignisse reduzieren.

Geschichten der Verfolgung entgegensetzen

Seit 2009 leitet Pascal Begrich hauptberuflich den Verein Miteinander – Netzwerk für Demokratie und Weltoffenheit in Sachsen-Anhalt. Ein Schlüsselmoment seines sozialen Engagements wären die rechtsradikalen Aufmärsche in den 1990er Jahren in der Stadt gewesen, die heute immer noch stattfinden. Inzwischen seien die Widerstände in der Stadtgesellschaft aber sichtlich stark gewachsen. Und: „Magdeburg hat eine sehr reichhaltige Erinnerungskultur.“

Dennoch drohe im institutionalisierten Gedenken etwas verloren zu gehen, meint Begrich. Er selbst bietet Stadtführungen zum Thema „Magdeburg im Nationalsozialismus“ an. Darüber hinaus sei geplant, dass eine aktualisierte Homepage zum „gedenkjahr-magdeburg.de“ mit den Chronik-Meldungen sowie Biografien und Orten in Magdeburg demnächst online geht.

Das Erinnern bleibt ein Kompass für Gegenwart und Zukunft. Und so dürfen die Verbrechen des Nationalsozialismus nicht in Vergessenheit geraten. Gerade heute, wo bestimmte Tendenzen in der Gesellschaft vermehrt an dieses Gedankengut anknüpfen mögen. Zur Motivation für seine Twitter-Aktivität sagt Pascal Begrich: „Man muss einer Instrumentalisierung der Geschichte von rechts außen ganz konkret die Geschichte der Verfolgung im Nationalsozialismus entgegensetzen.“