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Feminismus Sexuelle Befreiung: Wie die Magdeburgerin Helga Goetze zur Tabubrecherin wurde

Sie provozierte mit Sprüchen wie "Ficken ist Frieden" und kämpfte für Feminismus. Helga Goetze wäre dieses Jahr 100 geworden. Wie ihre Jugend in Magdeburg ihr Leben prägte.

Von Robert Gruhne Aktualisiert: 28.03.2022, 13:49
Die gebürtige Magdeburgerin Helga Goetze trat jahrzehntelang für sexuelle Selbstbestimmung ein.
Die gebürtige Magdeburgerin Helga Goetze trat jahrzehntelang für sexuelle Selbstbestimmung ein. Foto: Johannes Hinkelammert

Magdeburg - Berlin, Anfang der 2000er: Eine ältere Dame steht tagein, tagaus vor der Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche und redet auf die Passanten ein. "Ficken ist Frieden", ist einer ihrer Sprüche, "Schwanz zeigen" ein anderer. Die sexuelle Befreiung ist ihr Anliegen. Sie heißt Helga Goetze, geboren am 12. März 1922 in Magdeburg.

Helga Goetze war Künstlerin, engagierte Feministin und brach mit dem Tabu, dass ältere Frauen nicht über ihr Sexleben sprechen. Für die Boulevard-Presse war sie deshalb mal die "Sex-Oma", mal "Deutschlands Supersau".

Ihre Geschichte erzählt viel darüber, wie die deutsche Gesellschaft im 20. Jahrhundert mit Sexualität umging. "Das Wort 'sexuell' war ja schon anrüchig", sagt Helga Goetzes Sohn Ulrich über seine eigene Erziehung.

Nachts die Hände auf der Decke

Denn Helga Goetze kämpfte nicht immer für Gleichberechtigung und sexuelle Entfaltung. Die erste Hälfte ihres Lebens lebte sie unauffällig und bürgerlich und zog sieben Kinder groß. Anders hatte sie es in ihrer Familie in Magdeburg auch nicht gelernt.

"Ihre Eltern waren streng", sagt Sohn Ulrich Goetze über die Familie seiner Mutter. Ihr Vater Martin Troch war Nachfahre einer Familie von Orgelbauern aus Haldensleben. Im Ersten Weltkrieg war er Kapitän, danach Vertreter für eine Seifenfabrik. Die Mutter Else Troch kam aus der Hamburger Gegend und war Hausfrau.

Auf dem Berliner Breitscheidplatz hielt Helga Goetze, wie hier 1996, Mahnwachen ab.
Auf dem Berliner Breitscheidplatz hielt Helga Goetze, wie hier 1996, Mahnwachen ab.
Foto: Johannes Hinkelammert

Antonia Hillebrand, eine Enkelin Helga Goetzes, hat viele Gespräche mit ihrer Großmutter geführt, auch zu ihrer Kindheit. "Sie hat viel über die Prüderie in ihrem Elternhaus gesprochen, etwa dass nachts die Hände auf der Decke liegen mussten", erinnert sich Hillebrand.

Bürgerliches Leben in Magdeburg

Die Familie von Helga Goetze wohnte in Stadtfeld. In der Schillerstraße hatte sie eine enge Stadtwohnung, allerdings mit Kindermädchen, betont Hillebrand: "Der Bürgerstatus war ihnen wichtig."

Deshalb war Helga auch Mitglied im Ruderclub. Dort lernte sie im Jugendalter ihren späteren Mann Curt Goetze kennen, einen Bankier bei der Deutschen Bank.

Als der Krieg kam, ging Curt Goetze zur Marine. Helga verließ 1939 Magdeburg und leistete einen Reichsarbeitsdienst in Hamburg. Angeregt von Helgas Mutter begannen Curt und Helga einen Briefwechsel. Im September 1942 feierten sie Hochzeit in Magdeburg.

Ausbruch aus der Spießigkeit

Helga Goetze lebte die folgenden gut 25 Jahre als Hausfrau und Mutter in Hamburg. Sexualität spielte dabei kaum eine Rolle. "Ihren Mann hat sie nie nackt gesehen", sagt Ulrich Goetze über seine Mutter.

Dann, heißt es, hatte Helga Goetze mit einer Affäre ihren ersten Orgasmus, während eines Italien-Urlaubs anlässlich ihrer Silberhochzeit. Sie beschrieb es als ein "Erweckungserlebnis".

In bunten und freizügigen Stickbildern verarbeitete Helga Goetze ihre Botschaften. Das Bild trägt den Titel "Weiblicher Buddgha, Gaia, die Erdmutter" und stammt aus dem Jahr 1983.
In bunten und freizügigen Stickbildern verarbeitete Helga Goetze ihre Botschaften. Das Bild trägt den Titel "Weiblicher Buddgha, Gaia, die Erdmutter" und stammt aus dem Jahr 1983.
Foto: Stadtmuseum Berlin

Von da an änderte Helga Goetze ihr Leben. Sie lernte über Annoncen Männer kennen und setzte sich künstlerisch mit ihren Erlebnissen auseinander. In TV-Sendungen sprach sie über ihr Sexleben und löste damit Skandale aus.

Botschaften in die Welt tragen

"Meine Mutter wollte eigentlich nur das Leben erkunden", sagt Mechthild Goetze-Hillebrand, das zweitjüngste Kind von Helga Goetze. Dass das Thema Sexualität so eine große Rolle für ihre Mutter spielte, habe daran gelegen, dass sie ihre Sexualität jahrelang unterdrücken musste.

Helga Goetze begann auch, sich kritisch mit der Gesellschaft und ihrer Haltung zu Sex zu beschäftigen. In Rundbriefen, Gedichten und Tagebüchern hielt sie ihre Gedanken fest und verteilte sie an Interessierte.

Ihr Anliegen war eine Erziehung, die sexuelle Bedürfnisse und liebevolle Zuwendung beinhaltet, sagt ihre Enkelin Antonia Hillebrand. „Aus Sex muss Liebe werden, aus Liebe Gebet und aus Gebet Ekstase", lautet einer ihrer Aussprüche.

Umfangreicher Nachlass

Nachdem sie 1983 nach Berlin gezogen war, hielt sie jeden Tag Mahnwache an öffentlichen Plätzen und unterhielt sich mit Passanten über Sex und Liebe. Bis kurz vor ihrem Tod hielt sie durch. Am 29. Januar 2008 starb Helga Goetze.

Goetze trug auch von ihr selbst gestickte Westen, wie hier um 1995.
Goetze trug auch von ihr selbst gestickte Westen, wie hier um 1995.
Foto: Stefan Maria Rother

Hinterlassen hat sie eine riesige Sammlung, darunter 30.000 Seiten Text und 280 Stickbilder. In den bunten und freizügigen Darstellungen vermittelte sie viele ihrer Botschaften.

"Machdeburch" im Herzen behalten

Ihre Nachkommen haben eine Stiftung gegründet, die sich um den Nachlass kümmert und heute am Stadtmuseum Berlin angesiedelt ist. Dort heißt es, Helga Goetze sei eine "Berliner Institution" und eine "Tabubrecherin" gewesen. Andere Medien sprechen gar von einer "Pionierin der Selbstbestimmung".

Für Enkelin Antonia Hillebrand war die ansteckende Art ihrer Großmutter beeindruckend: "Das habe ich persönlich am meisten bewundert: Wie viel Mut sie manchen Menschen gemacht hat, indem sie mit ihnen gesprochen hat. Sie hat immer den Dreh ins Hoffnungsvolle gefunden."

Obwohl sie oft über ihre eigene Erziehung schimpfte, hat Helga Goetze ihre Kindheit in Magdeburg geprägt. Selbst während der deutschen Teilung besuchte sie regelmäßig die Region. Mit dem Sticken schlug sie künstlerisch einen Bogen in ihre Kindheit. Und bis zuletzt hatte sie sich auch behalten, "Machdeburch" zu sagen.