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Tschernobyl Wenn Schweigen keine Probleme löst ...

Das Hilfswerk "Kinder von Tschernobyl" erinnerte in Osterburg an die Reaktorkatastrophe. Und gab Einblicke in seine Arbeit.

Von Jana Henning 29.04.2016, 18:00

Osterburg l Was vor 30 Jahren auf die Reaktorexplosion im Atomkraftwerk Tschernobyl folgte und zunächst aufgrund russischer Nachrichtensperre nur mit einer Randnotiz durch die Weltmedien ging, zeigt noch heute sein schreckliches Gesicht. Vorausgesetzt, man sieht hin. Das tun die Mitstreiter des Hilfswerkes „Kinder von Tschernobyl“ – bereits seit 1991. Unermüdlich. Falsch, sie tun weit mehr als das und „wir sind sehr stolz darauf, immer noch so aktiv zu sein“, weist Margrit Rieger am Donnerstagabend im evangelischen Gemeindezentrum Osterburg auf die Aktivitäten des in Beuster ansässigen Vereins hin.

Allen voran die jährlichen Erholungsaufenthalte von 18 Kindern mit zwei Betreuerinnen und einer Dolmetscherin aus der radioaktiv verstrahlten weißrussischen Region rund um die Kreisstadt Narowlja. Am 30. Mai sei es wieder soweit und „für die beiden Wochenenden 10. bis 12. und 17. bis 19. Juni suchen wir noch Gastfamilien“, liegt hoffnungsvoller Glanz in ihren Augen. Schnell wird klar warum: „Ich fühle mich da schon richtig eingebürgert“, erklärt die stellvertretende Vereinsvorsitzende nach inzwischen 15 Besuchen in der nur 50 Kilometer vom exakten Unglücksort entfernten Stadt.

„Runde Jahreszahlen haben es ja so an sich, dass ein Problem wieder stärker in den Vordergrund rückt“, zielt Vereinschefin Veronika Benecke mit ihren Begrüßungsworten genau dorthin, wo es weh tut. Und sie trifft. Nur weil man darüber schweigt, verschwinde ein Problem nicht einfach. Ganz im Gegenteil: „Denn hätten wir Tschernobyl schon verarbeitet, würden wir mehr darüber reden“, übergibt Benecke das Wort an Tamara Dawidowitsch, Dolmetscherin und Mitarbeiterin beim Goetheinstitut in Minsk, und Ira Dworakowskaja, Ärztin in einem der sechs Laboratorien in Narowlja.

Sie zeigen auf, was nicht in Vergessenheit geraten darf: Mit dem Reaktor explodierten Krankheiten – allen voran Krebs, die Sterblichkeitsrate, Missbildungen bei Neugeborenen. Und auch heute noch – im betroffenen weißrussischen Gebiet nicht selten fast ein ganzes Menschenleben danach – sind die Folgen der Havarie nicht von der Hand zu weisen. Auch dann nicht, wenn zwar viel geforscht und experimentiert werde in der als Naturschutzgebiet deklarierten Todeszone, „Ergebnisse aber unter Verschluss bleiben“ und die Menschen aus Geldnot „leider in den Wald gehen, um Beeren und Pilze zu sammeln“, was Dworakowskaja sehr bedauere.

Ebenso den Zustand, dass auch niemand in der Bevölkerung nach Ergebnissen aufbegehre, wie die 55-Jährige bestätigt. Erschrockenes Unverständnis liegt im darauffolgenden Schweigen. Man fragt sich beinahe: Wo ist der Wutbürger, wenn man ihn braucht? Doch auf wen soll man wütend sein? Den globalen Fortschritt, seine Risiken und die Folgen? Vergebens, verpufft! Ganz sicher aber doch auf jene, die noch heute vertuschen und kleinreden. Doch sie bekommt darauf angesprochen, eher traurig glänzende Augen. Verleugnen, Wut, Trauer, Akzeptanz: Irgendwo zwischen Schritt drei und vier der Problemverarbeitung sind sie angekommen. Sicher, es sei nach wie vor schlimm und man werde noch lange – „ewig wahrscheinlich“ damit leben müssen.

Doch die sechs anwesenden weißrussischen Partnerinnen des Hilfswerks wollen sich auch freuen können. Und so endet Tamara Dawidowitsch’s Vortrag über die Katastrophe mit „Das Leben geht weiter…“ und zeigt die gesunde neun Monate alte Enkelin Victoria. Da ist es, das Lachen in den Augen, das es in einem Monat 18 Kindern aus Narowlja hier bei uns in der Altmark zu schenken gilt, bittet Margrit Rieger interessierte Gasteltern um Anmeldung unter Tel: 03937/80002.