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Deutsche Einheit Viele Fragen kommen erst jetzt auf

Propst Christoph Hackbeil hat die Festansprache zu 25 Jahren Deutsche Einheit im Kreistag Salzwedel gehalten.

03.10.2015, 06:54

Salzwedel l Bereits am Montag hat der Kreistag des Altmarkkreises in einer Feierstunde dem 25. Jahrestag der Deutschen Einheit gedacht. Die Festansprache hielt Propst Christoph Hackbeil. Auszüge:

Zur deutschen Wiedervereinigung äußerte der damalige Bundeskanzler Helmut Kohl den Wunsch, dass am 3. Oktober 1990 in allen Kirchen die Glocken läuten. Wir waren mit den Pfarrerinnen und Pfarrern des Kirchenkreises Gardelegen und aus dem Partnerkirchenkreis in Frankfurt zu einer gemeinsamen Konferenz. In unserer Runde wurde die Bitte des Kanzlers heftig diskutiert. Unsere Diskussion hatte zwei Brennpunkte: einerseits den Dank für das Geschenk der Wiedervereinigung. Das Geläut der Glocken würde diesen Dank ausdrücken. Andererseits sei der 3. Oktober eben ein staatlicher Feiertag und brauche keine kirchliche Weihe. In dieser Diskussion ging die Linie übrigens quer durch Ost- und Westdeutsche.

Ich will hier nicht die rhetorischen Glocken läuten, sondern will gedenken in Dankbarkeit und Demut. Dankbar bin ich mit den allermeisten Deutschen dafür, dass das doch sehr begrenzte historische Zeitfenster des Jahres 1990 genutzt wurde, um mit den ehemaligen alliierten Kontrollmächten den Weg freizumachen, dass Deutschland 45 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges als geeintes Land einen geachteten und verantwortlichen Platz unter den Nationen einnehmen konnte. In dieser kurzen Zeit erhielt das geeinte Deutschland die volle Souveränität zurück. Unser Land hat seine Chance genutzt. (...)

Ich habe einen großen Respekt vor allen, die sich bis heute in ihrem Gemeinwesen engagieren, sei es in der Kommunalpolitik, sei es in Vereinen oder Initiativen. Die deutsche Einheit ist das Werk unglaublich vieler engagierter Bürgerinnen und Bürger auch hier in der Altmark. Sie haben gemeinsam erreicht, dass die Altmark nicht nur die geliebte Heimat blieb, sondern eine Region mit einer hohen Lebensqualität wurde. Dafür gehört heute ganz vielen Menschen der Dank.

Deshalb ist es umso wichtiger, auf die Basis unserer Demokratie zu achten. Wir brauchen Möglichkeiten echter Mitgestaltung und Beteiligung vor Ort. Da spielen die Kommunen eine große Rolle. Sie sind das erste Lernfeld und das Rückgrat der Demokratie. Ich kann dem Land Sachsen-Anhalt da nur wünschen, die Funktion der Ortsbürgermeister und Ortschaftsräte weiterhin wert zu schätzen.

Wir müssen die Politikmüdigkeit und Ängste von Menschen ernstnehmen, die sich in mangelnder Wahlbeteiligung ausdrückt, aber oft ihren Ursprung im Fehlen eines direkten Gesprächs von Bürger und Politik hat. Nicht nur angesichts der Flüchtlingsthematik kann es hilfreich sein, zusätzliche Gesprächsmöglichkeiten zu schaffen. Das direkte Gespräch fördert immer Lösungen.

Jedoch ist die Leistungsfähigkeit von Landkreisen als Hintergrund der Gemeinden ein wesentlich stabilisierender Faktor. Menschen müssen sich verlassen können auf den Staat. In diesen Wochen erleben wir hier im Altmarkkreis Salzwedel einen professionellen Umgang mit der Flüchtlingsaufnahme, der aber als Gegenüber die Bürgerinnen und Bürger braucht, die sich für eine Willkommenskultur einbringen. (...) Wir sollten auf die Kraft der Demokratie vertrauen und mutig für Weltoffenheit und Toleranz eintreten. (...)

Ich war 1990 34 Jahre alt. Meine Kinder erinnern sich noch an die Ereignisse von damals. Aber für die unter 30-Jährigen ist das alles Geschichte. Es ist für sie selbstverständlich, in einem freien Land zu leben, zu reisen wohin man will und zwischen verschiedenen Lebensentwürfen zu wählen. Manche der Wendekindergeneration tragen jedoch auch schmerzliche Erfahrungen mit sich. Ihre Eltern hatten oft den Kopf voll mit Lebensfragen wie der nach dem Arbeitsplatz. Sie liefen nur irgendwie mit.

Ich kann mir vorstellen, dass jetzt, 25 Jahre später, gerade aus dieser Generation die kritischen Fragen an uns ältere aufbrechen. Wo wart ihr damals in der DDR und danach? Was habt ihr euch für eure Kinder damals gewünscht? Und was ist daraus geworden? Wir sollten bereit sein zu antworten.

Weit weg ist das alles erst recht für meine beiden Enkel, die in diesem Jahr eingeschult werden. Für sie habe ich den Wunsch, dass sie einmal einen guten Geschichtsunterricht haben, in dem die DDR-Zeit, wie auch die Friedliche Revolution und die Wiedervereinigung vertieft und anschaulich gelehrt werden. (...)

Unsere Landesbischöfin hat 2009 eine Debatte angestoßen mit dem Vorstoß, dass wir Menschen, die das DDR-System unterstützt haben, nicht in Schubladen stecken sollen. Auch Stasi-Täter nicht. Das hat ihr Kritik eingebracht. Vertreter der Opferverbände fühlten sich zurückgesetzt. Aber festhalten müssen wir heute noch, dass die Aufgabe einer Versöhnung mit unserer Geschichte weithin noch vor uns liegt.

Vielfach leben Menschen mit unterschiedlicher DDR-Biographie nah beieinander und doch konsequent aneinander vorbei. In ehemaligen Grenzorten ist das bis heute besonders wahrnehmbar. Die Opfer erleben, dass sich zu wenige für ihre Geschichte interessieren. Viele der einstigen Verantwortungsträger sagen: Ich habe mir nichts vorzuwerfen und schweigen.

Aber jeder soll wissen: wo sich die Möglichkeit auftut, dass Menschen von unterschiedlichen politischen Seiten der DDR-Zeit anfangen ihre Geschichte zu erzählen und sich zuzuhören, da beginnt etwas sehr Wertvolles. Die Geschichte hat ihr Urteil über die DDR gesprochen. Aber die biographischen Besonderheiten aller Seiten sind bestehen geblieben als gelebtes Leben.

Wäre es nicht besser, wenn es Angebote gibt, wo Menschen sagen: ich habe etwas mitzuteilen? Ich möchte meine Geschichte erzählen. Dann sollten wir zuhören. Dann darf und muss auch hinterfragt werden. Aber das zementierte Schweigen einer Gesellschaft über die eigene Geschichte ist oft die Wurzel für neue Fehlentwicklungen.

Wenn Sie mich nach einem Wunsch für die Zukunft fragen, dann ist es neben einem friedlichen und gerechten Zusammenleben in Vielfalt vor allem das Gespräch auf den unterschiedlichsten Ebenen. Nur miteinander reden wird uns weiterbringen. Der gesellschaftliche Dialog ist gerade in krisenhaften Zeiten nicht zu unterschätzen. Wir sehen hier als Kirchen eine Möglichkeit, unseren Beitrag zu leisten.

Wir in der Evangelischen Kirchengemeinde Mieste standen am 3. Oktober 1990 auch vor der Frage: sollen wir die Glocken läuten? Wir boten dann eine Andacht zum Nachdenken und Danken an. Dazu läuteten die Glocken. Wir hatten Grund zum Danken, denn die Überwindung der diktatorischen Verhältnisse in der DDR und die deutsche Wiedervereinigung waren in Frieden und Freiheit gelungen. Aber wir hatten ebenso Gründen über vieles noch Unklare nachzudenken. Danken und Denken gehören zusammen.

Christoph Hackbeil erlebte die Wendezeit als evangelischer Gemeindepfarrer von Mieste, bevor er Superintendent des Kirchenkreises Halberstadt wurde. Seit 2009 ist er Regionalbischof des Propstsprengels Stendal-Magdeburg.