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BibliothekZwischen Marx und Goethe

Ein Blick in den Untergrund der Freydank‘schen Villa in Salzwedel, welcher für die Öffentlichkeit nicht zugänglich ist.

Von Alexander Rekow 16.12.2018, 09:00

Salzwedel l Fantasie und Wissen auf Papier. Mal brandneu, mal viele Jahrzehnte alt. Alle fein säuberlich durchnummeriert. Ein Fundus aus Kultur, Wissenschaft, Fiktion und Geschichte reiht sich auf zwei Etagen. Bianca Hochstein ist die Wächterin dieses Fundus. Sie ist Leiterin der Stadt- und Kreisbibliothek Salzwedel. Ihre Residenz: Eine Villa aus dem Jahr 1904.

Bianca Hochstein hat heute viel zu tun. Eine Gruppe Kinder wuselt durch das alte Gemäuer. Sie sind zu einer Lesestunde gekommen. Am Telefon hat sich gerade Besuch für den Nachmittag angekündigt. Das Telefon in der linken Hand, ein liebes Wort in Richtung der Kinder. Dann muss sie in den Keller. Dort befindet sich gewissermaßen die Kommandozentrale der Bibliothek. Ein Kollege checkt gerade den Schaltkasten, eine weitere sitzt mit administrativen Aufgaben vor einem Computer. Ein Großraumbüro im Untergrund. Doch Bianca Hochstein will nicht ins Büro. Ihr Ziel: das Archiv. „Hier kommt die Öffentlichkeit nicht hin“, sagt sie. Ein Seil trennt den Weg ins Untergeschoss. Zwei kleine Treppen hinunter, dann noch durch den Gemeinschaftsraum. Schließlich kommt sie dort an, wo nur Mitarbeiter Zutritt haben – das Bibliotheksmagazin. Die Kinderstimmen sind hier nicht mehr zu hören, Licht kommt fast ausschließlich von der Decke. Hier lagern, zusätzlich zum Bestand, noch einmal mehr als 2000 Bücher. „Das ist das Lager für unsere Schätze“ sagt sie. Dann dreht sie an einem Rad der Magazine. Auf Schienen fahren die Regale wie von Geisterhand durch den Raum. Zehn Regale, zwei Meter hoch, randvoll mit Literatur.

Ebenso spannend wie die Lektüre ist die Geschichte des Gebäudes, in dem die Bibliothek heute untergebracht ist. Eine gelbe Villa im Jugendstil. 1904 durch den Brauereibesitzer Hermann Freydank errichtet. Der finanzkräftige Freydank ließ seine Vorstellungen mit einfließen. So entstand eine Villa mit Elementen aus der griechisch-römischen Kunst. Marmorsäulen, verzierte Treppengeländer, ornamentreiche Fußbodenfliesen, bleiverglaste Fenster und überall Blüten und Blätter. Dazu ein dreieckiger Erker mit Turmschindeln. Nach dessen Tod 1919 betrieb sein Sohn Walter von 1931 bis 1961 in der Villa eine Arztpraxis samt modernen Röntgengerät. Mit dem Tod von Walter Freydank ging das imposante Gebäude in den Besitz des Kreises über. Aber nicht ohne den letzten Wunsch des Hausherren. Der verfügte nämlich, dass das Gebäude nur für soziale Zwecke genutzt werden soll. Dem entsprach der Kreis und richtete nach einem Kinderheim ab 1965 eine Kinderkrippe ein. Die Freydank‘sche Villa blieb somit ein Ort zum Wohle der Gesellschaft – ab 1979 im Besitz der Stadt.

Die Mangelwirtschaft der DDR ging auch an der Freydank‘schen Villa nicht spurlos vorbei. Der Putz bröckelte, Metall rostete, Holz wurde porös. Sogar die Erzieherinnen machten auf den schlechten Zustand aufmerksam, fürchteten vermutlich um die einst prachtvolle Villa und die Sicherheit der Kinder. 1989 mussten die Krippenkinder schlussendlich auf andere Einrichtungen aufgeteilt werden. Die alte Veranda wurde abgerissen. Zum geplanten Anbau für Sanitäranlagen sollte es nicht mehr kommen: Die Mauer fiel und der Bau wurde gestoppt. Auch der Verkauf der Villa, die im Westen Begehrlichkeiten weckte. Stattdessen gab es 1991 den Titel „Baudenkmal“. Ab 1992 wurden die Pläne einer Bibliothek vorangetrieben. Vor 24 Jahren begann schließlich der Umbau, die Rettung für das geschichtsträchtige Gebäude. Die alten Schornsteine mussten für einen Veranstaltungsraum unter dem Dach weichen. Damit wurde auch der Kohlenkeller überflüssig, wo heute unter anderem das Archiv seinen Platz hat. Stuck wurde ausgearbeitet, Wände gestrichen, Elektronik der Zeit angepasst. Ein Fahrstuhl erspart gehandicapten Menschen den Gang durch das alte Treppenhaus. Seit der Fertigstellung am 11. Mai 1996 erstrahlt die Freydank‘sche Villa wieder und gehört zu den Glanzstücken der Hansestadt.

Kerstin Gromeyer kommt in das Archiv. Die Diplom-Bibliothekarin und Leiterin der Kinderbibliothek sucht verzweifelt ein bestimmtes Kinderbuch zur Weihnachtszeit. Sie verschwindet zwischen den Magazinen. Wieder rollen die Regale, dieses Mal in die andere Richtung. „Wo ist es denn, verflixt nochmal“, ist hinter den Wänden voller Bücher zu hören. Dann kommt sie mit einem Lächeln heraus. „Es hat sich bei den Winterbüchern versteckt“, sagt sie. Dann ist sie wieder weg, so schnell, wie sie gekommen ist. Sie eilt zurück zu den Kindern, die heute zur Lesung gekommen sind. „Die Bücher sind auch nach Jahreszeiten und Anlässen wie Ostern oder eben auch Weihnachten sortiert“, erklärt Bianca Hochstein. So wandert die Lektüre regelmäßig vom Archiv in die Regale der Bibliothek – und wieder zurück. Das gleiche passiert mit der Literatur für den Bücherbus, der die Orte außerhalb der Stadt mit Lektüre versorgt. „Dort haben die Menschen andere Interessen“, weiß die Bibliotheksleiterin. So sind auf dem Land Bücher über Landmaschinen, Nutztiere und Anbau gefragter als in der Stadt.

Bianca Hochstein greift zu einem Lexikon, es reiht sich in eine ganze Reihe Lexikas. Doch gefragt werden die dicken Bücher kaum noch. „Heute schauen die Leute auf Wikipedia (Online-Enzyklopädie)“, sagt sie. Außerdem hätte sich auch das Wissen der Menschen erweitert – Grenzen wurden verschoben, Staaten gegründet. Daher fristen einige Exemplare ein unbeachtetes Dasein. Dazu gehört auch die Gesamtausgabe der Marx-Engels-Werke, kurz MEGA. Was im Sozialismus zur Tageslektüre gehörte, ruht heute in den Magazinen. „Davon wollen wir uns nicht trennen“, sagt Hochstein. Schließlich sei das ein Teil der Geschichte. Gleiches gilt für die Werke von Lessing, Goethe, Heine, Kleist und Brecht. Die Köpfe jener Zeit fristen heute häufig ein Nischendasein. Für Bianca Hochstein ist das nicht schlimm. Alle Zeiten, Epochen haben ihre Lektüre, weiß sie. Die Bücher seien auch nicht verschwunden, sie warten. Ob es noch einmal eine Nachfrage gibt, darauf weiß nur die Zukunft eine Antwort.

Im letzten Regal der Magazins sind Erinnerungen aus DDR-Zeiten auf Papier gebannt. Es sind die Brigadebücher der Bibliothek, die vor dem Villa-Bezug noch in der Burgstraße untergebracht war. Zu dieser Zeit war der Zugang zu Wissen nicht grenzenlos wie heute.

Es sind Erinnerungen an gemeinsame Ausflüge. Erinnerungen an den 1. Mai und Postkartengrüße aus dem Urlaub. Eine Zeitreise zwischen einem Land, das es nicht mehr gibt, und den Erfahrungen der Belegschaft. „Die habe ich bis heute noch nicht alle gelesen“, sagt Bianca Hochstein und hält ein Exemplar von 1966 in den Händen. Von ihren Kollegen, die zu DDR-Zeiten schon als Bibliothekare arbeiteten, weiß sie, dass noch heute gern in den Erinnerungen geschwelgt wird. Für Hochstein sind die Brigadebücher ein Zeugnis der Geschichte, in der sie ihr eigenes Wissen über die DDR erweitern kann. Außerdem, so Hochstein, gebe es das Kollektiv heute noch. Nur nennt man gemeinsame Ausflüge heute eher „teambildende Maßnahmen“, sagt sie. „Das ist wichtig für den Zusammenhalt“, weiß sie. Das Telefon klingelt, Bianca Hochstein muss wieder an die Oberfläche der Bibliothek. Die Kita-Kinder sind derweil von der Lesestunde wieder im Foyer angekommen. Am Tresen für den Verleih herrscht reger Betrieb. Ein Paar schaut sich im Treppenhaus eine dort ausgestellte Galerie an. Unter dem Dach wird die nächste Lesung vorbereitet, dieses Mal für Erwachsene.

Die Freydank‘sche Villa ist ein Ort des Wissens. Sie hat mehr als 100 Jahre auf dem Buckel und steht noch immer im Dienst der Gesellschaft – wie es Walter Freydank einst wollte.