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Bombenabwurf Salzwedels schrecklichste Stunde

Der Salzwedeler Wolfgang Winkelmann hat die Bombardierung der Alliierten erlebt.

Von Christoph Zempel 22.02.2018, 11:01

Salzwedel l Voller Angst sitzt der Junge da, neben ihm seine Mutter, seine drei Brüder und etliche Nachbarn. Alle sind Bewohner eines Wohnhauses an der Reimmannstraße in Salzwedel. Es ist der 22. Februar 1945. Zusammengepfercht – Kopf an Kopf – mit pochenden Herzen und nach Luft japsend verharren sie im Luftschutzkeller und warten auf das Ende. Denn das scheint nah an diesem Tag, als die Alliierten Salzwedel mit einem Bombenregen überschütten. Bilder, die Wolfgang Winkelmann nie vergessen wird.

Kurz zuvor: Wie jeden Tag läuft gerade das Radio; es ist einer der letzten Monate des Zweiten Weltkriegs, als er und seine Familie die Nachricht hören: Große Fliegerverbände sind im Anflug auf Salzwedel. Zuvor waren bereits andere kleine Städte bombardiert worden. Etwa Hildesheim oder Paderborn. Salzwedels Partnerstadt Wesel wurde, gemessen am Anteil des Wohnraums, gar zu 97 Prozent zerstört.

Die Winkelmanns zögern nicht lange. Sofort eilen sie in den Luftschutzkeller. „Ich dachte, es ist aus. Jetzt ist Salzwedel dran“, erzählt Wolfgang Winkelmann. „Alles hat vibriert und gerappelt. Über uns war ein Getöse, das man sich kaum vorstellen kann.“ Mit rund 6000 Flugzeugen flogen die Alliierten wichtige Bahnknotenpunkte im Dritten Reich an. Auch Uelzen und Stendal waren betroffen. Berlin oder Hamburg sowieso. Die Zivilbevölkerung badete aus, was das Regime Adolf Hitlers in seinem Wahn angerichtet hatte.

Es sind tausende Bomben, die an diesem Tag auf die Hansestadt niederprasseln. „Selbst die Erwachsenen schrien. Wir Kinder sind fast gestorben vor Angst“, beschreibt Winkelmann die Situation im Keller. „Eine Frau hatte schon Erfahrung. Die hat uns gesagt, dass wir den Mund offen halten sollen, damit die Lunge durch den Luftdruck nicht platzt.“

Dann kehrt Ruhe ein. Der Älteste geht nach draußen. Doch kaum ist er dort, kommt er auch schon zurück. „Es ging wieder los. Ich hab nur gedacht, wann wird unser Haus dran sein“, berichtet Winkelmann. Doch auch diese Bombenwelle überstehen die Bewohner unversehrt. Erneut zieht Stille ein. „Keiner hat ein Wort gesprochen. Es war unheimlich.“

Die Zeit bleibt stehen. Nicht mal der Mann mit der SA-Uniform spricht an diesem Tag. Die Durchhalteparolen, die er den Bewohnern des Hauses sonst zuruft, wenn sie im Keller Schutz suchen, bleiben aus. „Es kam mir vor wie eine Ewigkeit, dabei waren es vielleicht zehn Minuten“, sagt Winkelmann.

Bevor es überhaupt los geht, ist der Himmel noch strahlend blau, die Sonne scheint. So schildert es Winkelmann. Das ändert sich binnen Minuten. „Als wir nach einer Stunde endlich aus dem Keller kamen, war der Himmel grau. Voller Kondensstreifen. Die Sonne war nicht mehr zu sehen.“

Salzwedel könne unmöglich noch existieren, denkt er damals. Doch als sie durch die breite Stahltür ins Freie drängen, steht der Marienkirchturm noch. Auch die Häuser in der Nähe sind verhältnismäßig unbeschädigt. Weniger Glück hat der Bahnhof. Allen voran die Menschen, die dort verzweifelt Zuflucht im Bunker suchen. Auch die meterdicke Betonplatte kann nichts ausrichten. Der Bunker wird genau getroffen, keiner überlebt. „Als wir dort ankamen, wurden gerade die Toten abgedeckt und mit Pferdewagen abtransportiert. Es war eine einzige Verwüstung“, erzählt Winkelmann. Zur Mittagszeit hatten sich viele Reisende am Bahnhof aufgehalten.

„Meine Mutter schnappte uns Jungs damals. Wir waren ja am südlichen Stadtrand, dort waren die Spuren überschaubar. Doch in der Burgstraße sahen wir dann zersprungene Scheiben. Mitten auf der Straße lag ein Stück Eisenbahnschiene.“ In der Breite Straße, damals Adolf-Hitler-Straße, ist es noch schlimmer. Viele Dächer sind zerstört, die Fensterscheiben ohnehin. Am fatalsten jedoch ist: Die Gefahr ist keineswegs gebannt. „Den ganzen Tag gingen Blindgänger hoch“, erzählt Winkelmann. Noch am Abend geht es wieder los. Der Bahnhof brennt. Die Flammen werfen einen schaurigen Rotschein über die Stadt. Zeitgleich werden Magdeburg, Hamburg und Berlin bombardiert. „Wenn ich in der Reimmannstraße bin, weiß ich genau, wo die Städte liegen. Sie strahlten damals einen gewaltigen Feuerschein aus, sodass unsere Gesichter rot erleuchtet waren.“ Mehr als 300 Opfer fordert der Luftschlag. Auch ein Klassenkamerad von Winkelmann überlebt nicht.

Fast Tag und Nacht verbringen er und seine Familie in dieser Zeit im Luftschutzkeller. Selbst die Spielsachen sind dort. „Aber hätte es bei uns eingeschlagen, wäre keiner lebendig raus gekommen.“ Über mehrere Monate zieht sich diese Routine. Immer wieder heulen Sirenen auf und geben das Signal, die Straßen schnellstmöglich zu verlassen. „Einmal war ich gerade auf dem Weg zur Schule, als der Voralarm losging. Da flogen über mir bestimmt tausend Flugzeuge. Manche so tief, dass man die Piloten sehen konnte. Davon träume ich heute noch“, sagt er.

Oder ein anderes Mal, als er beobachtet, wie auf dem Fliegerhorst deutsche Bomber in die Luft steigen und alliierte Flugzeuge herannahen. „Da hat es sofort geballert. Ich dachte nur, wenn über mir eine Bombe abgeschmissen wird, dann kriege ich die auf den Kopf.“ Die Flieger verschwinden, nur Rauchpilze bleiben am Himmel zurück.

Am 12. April klopft es an der Tür der Winkelmanns, die gerade Abendbrot essen. Zwei uniformierte Amerikaner stehen davor. „Die haben nach Waffen und deutschen Soldaten gesucht.“ Dann muss die Familie ausziehen. Die Amerikaner brauchen die Häuser für militärische Stellungen. Die Winkelmanns stehen auf der Straße. In einem Kindergarten an der Marienkirche kommen sie unter. Erst, als der Krieg kurze Zeit später vorbei ist, können sie in ihr Heim zurück.

Wolfgang Winkelmann ist heute 82 Jahre alt. Der Krieg ist lange vorbei, doch die Erinnerungen bleiben. „Die Bilder gehen nie weg.“