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Volksstimme-Serie Der Zusammenhalt bröckelt

Die Grüne Dame Ingeborg Holz erzählt in der neuen Serie der Volksstimme „Solidarität - Gibt es die noch?“ von ihren Erfahrungen.

Von Mike Kahnert 10.01.2019, 05:11

Salzwedel l Der Zusammenhalt, wie Ingeborg Holz ihn kannte, war nach der Wende plötzlich weg. Eine Ellenbogengesellschaft hat sich entwickelt und bis heute geformt. Außerhalb ihres Heimatortes Fleetmark erfuhr sie Solidarität besonders von Menschen, die nicht in der deutschen Kultur aufgewachsen sind.

„Während eines Krankenhausaufenthaltes hatte ich ein ‚Aha-Erlebnis‘, wie wohltuend es ist, wenn jemand da ist“, erklärt die 75-Jährige, was sie endgültig dazu motivierte, am ehrenamtlichen Besuchsdienst der Grünen Damen teilzunehmen. Sie zeigt Empathie, steht den Patienten bei, ist einfach für sie da und hört ihnen zu. Füreinander da zu sein ist für Ingeborg Holz nichts Neues.

„Sich gegenseitig zu helfen ist für mich selbstverständlich. Auf dem Land ist es noch selbstverständlicher. Älteren Nachbarn haben wir jederzeit geholfen, und heute haben wir jüngere Nachbarn, die sich auch uns gegenüber so verhalten. Auf dem Land ist das gang und gäbe.“

Auch in der DDR war es gang und gäbe sich zu unterstützen, erinnert sich die frühere Biologielehrerin. „Wenn einer krank war, hat man ohne zu zögern Vertretung gegeben. Man hat sich bei Kleinigkeiten geholfen oder Lehrinhalte und Arbeitsvorgehen ausgetauscht“, erinnert sich die Rentnerin. Eine wichtige Rolle spielte ihrer Ansicht auch, dass in der DDR jeder wusste, was der andere verdient hat. Das änderte sich mit der Wende.

Mit dem neuen System kam das Konkurrenzdenken und die beruflichen Unsicherheiten. Gerüchte entstanden und der Verdienst der Anderen war plötzlich wichtiger als der Zusammenhalt im Kollegium. „Es ist nicht mehr so, wie es war“, blickt die ehemalige Lehrerin zurück. Dabei können sich schon Kleinigkeiten im Alltag positiv auf die Mitmenschen auswirken. „Andere Fragen ‚Wie geht es dir?‘ oder der gestressten Postbotin entgegenkommen und das Paket abnehmen“, begründet die Seniorin, dass solidarisches Handeln kein Beinbruch sein muss.

„Es ist sicherlich eine Sache der Erziehung“, beantwortet Ingeborg Holz die Frage, ob Solidarität gelernt werden kann. Dazu fällt ihr eine Geschichte aus Hamburg-Wilhelmsburg ein, als sie ihre Cousine besuchte. „Der Stadtteil hat den Ruf, 50 Prozent Ausländeranteil zu haben. Ich bin mit der Bahn gefahren und Sie müssen als Frau oder hilfsbedürftiger Mensch nicht stehen. Ein dunkelhäutiger Mann hat mich beim Einsteigen gesehen, stand direkt auf und hat seinen Platz angeboten. Ich schaute meine Cousine an, sie lächelte und sagte: ‚Das ist hier so.‘ Auf der Rückfahrt standen wir dicht an dicht in der U-Bahn. Hinter mir war ein junger Mann, der sagte: ‚Stehen Sie gut? Ich fange Sie auf, wenn Sie umfallen.‘ Das ist ein Gefühl, das im ganzen Stadtteil gelebt wird.“

Es handelt sich dabei nur um Kleinigkeiten, die allerdings vielen Deutschen abhanden gekommen seien, meint die 75-Jährige. „Es gibt viel Mitmenschliches, das mit anderen Kulturen nach Deutschland geschwappt ist. Davon können wir lernen“, glaubt sie. Im Gegensatz zu Deutschen leben viele Ausländer noch in größeren Familien und müssen auf sich achtgeben. Diese Menschen leben tagtäglich in einem solidarischen Gefüge, da sie sonst nicht überleben könnten.

Die Ehrenamtlerin glaubt trotzdem nicht, dass Solidarität ausstirbt. „Die negativen Eindrücke sind vielleicht nur ein kleiner Teil, sonst würde es ja bedeuten wir seien böse“, begründet sie und möchte jeden noch einmal ermutigen: „Die Augen offen halten und nicht immer nach unten gucken. Offen sein und wenn ein Mensch nicht so handelt, wie man denkt, dann hat das vielleicht seine Ursachen.“