Stadtgeschichte Kaiserzeit in Barby: Gesellschaftskritik auf der Ansichtskarte
Anfang des 20. Jahrhunderts wurden zum Teil absonderliche Ansichtskarten versendet. Eine davon erschien 1916 mitten im Krieg und spießt die Versorgungssituation mit Lebensmitteln auf.

Barby - Betracht man die Kaiserzeit Wilhelms des II. genau, sind zwei Dinge erstaunlich. Erstens: Die Menschen schreiben sich massenhaft Ansichtskarten, es gibt viele Sammler und die kuriosesten Motive. Zweitens: Die Gestaltung der Kartenmotive ist in einigen Fällen gesellschaftskritisch. Das offenbart, dass es in der wilhelminischen Zeit demokratischer zuging, als im Dritten Reich und in der DDR.
Davon kündet eine Ansichtskarte, die in einer Barbyer Haushaltsauflösung auftauchte. Sie wurde im Juni 1916 in Magdeburg versandt und trägt auf der Rückseite die Überschrift „Bedürfnis-Karte“. Versender ist die „Familie Kuhfahl“, die an „Tante und Mutter die besten Pfingstgrüße“ sendet. Auch „Tante Emma, Martha und Liesbeth“ werden mit Grüßen bedacht.
Die „Bedürfnis-Karte“ hat auf der Vorderseite nur ein Thema: die Zuteilung immer knapper werdender Lebensmittel durch Bezugskarten.
Zu sehen sind verschiedene Lebensmittelkarten des täglichen Bedarfs. So stehen dem Bürger pro Kopf und Woche beispielsweise nur 250 Gramm Fleisch, ein Liter Milch oder 500 Gramm Butter zur Verfügung. Der Bildtext bringt die Realität mit einem Seitenhieb auf den Staat lyrisch zum Ausdruck: „ ... Für Seife, Zucker, Eier / Für Wurst und ’Tante Meier’ / Man Karten Dir verspricht - Doch Ware kriegst Du nicht!“
Grund war der Krieg. Weil der nicht so verlief, wie es sich die Oberste Heeresleitung wünschte, wurden die Lebensmittel knapp.
Seeblockade wirkt
Der vorrangige Bedarf des Heeres an der Front, der Wegfall von Importen infolge der britischen Seeblockade sowie Arbeitskräftemangel in der Landwirtschaft und Beschlagnahme von Pferden für das Heer führten in Deutschland bereits im ersten Kriegsjahr 1914 zu Störungen bei der Lebensmittelversorgung der Stadtbevölkerung. Das alles führte zu „Hamsterkäufen“, die man durch staatliche Eingriffe mit Lebensmittelkarten zu regulieren hoffte. Über die Festlegung von Höchstpreisen für Brot und Getreide bis hin zur Zuteilung einzelner Eier wurde im Laufe des Krieges ein umfassendes System der Verteilung eingeführt.
Im Februar 1915 wurden in zahlreichen Städten die ersten Brotkarten ausgegeben. Für die Festlegung der Rationen waren die Kommunen zuständig. Im November 1915 wurden gesetzliche Maßnahmen zur Rationierung der Milchversorgung erlassen, im Frühjahr 1916 setzte die Kartoffelbewirtschaftung ein. Es folgte die gesetzliche Richtlinie für die Bewirtschaftung von Fleisch- und Wurstwaren.
„Kohlrübenwinter“
Im „Kohlrübenwinter“ 1916/17 konnte selbst der errechnete Mindestbedarf an Grundnahrungsmitteln für die Bevölkerung nicht gedeckt werden, die allgemeine Lebensmittelknappheit schlug in eine regelrechte Hungersnot um.
Vor diesem Hintergrund ist es erstaunlich, dass dieses Thema öffentlich auf einer Ansichtskarte stattfand, die ja auch an die Soldaten an der Front geschrieben wurde. Deren Kampfmoral dürfte damit nicht gerade gesteigert worden sein. Jedenfalls ein bemerkenswertes Zeitzeugnis, das heute Sammlerwert besitzt. Apropos, Ansichtskarte: Ausgerechnet im deutsch-französischen Krieg (1870/71) erlebte sie ihren ersten Masseneinsatz als Feldpostkarte. Sie wurde gratis zugestellt. Ihre wichtigste Botschaft: „Ich lebe noch!“ Familien und Freunde hielten über Monate nur über die Feldpost Kontakt.
Professor Herrmann war’s
Ihr Siegeszug geht auf einen Artikel zurück, der am 26. Januar 1869 in einer Wiener Tageszeitung erschien. Emanuel Herrmann, ein Professor für Nationalökonomie, plädierte dort für die Postkarte als neues Korrespondenz-Mittel und zählte die Vorteile des neuen Mediums auf: kurz, günstiger im Porto, weniger förmlich als der Brief und rasch zugestellt. Die Begeisterung des Professors steckte die Menschen an. Die österreichisch-ungarische Post gab am 1. Oktober 1869 die sogenannte „Correspondenz-Karte“ heraus.
Die ersten Postkarten zeigten aber noch kein Motiv. Auf der einen Seite stand der Text und auf der Rückseite dann die Adresse. Später wurden schließlich Bildmotive verwendet. Bis zum großen Durchbruch der Ansichtskarte in Deutschland dauerte es noch etwa bis 1896.
Wer also noch welche aus der Pionierzeit besitzt, sollte sie gut aufheben.