Die Mauer in Stendal war älter und langlebiger als die in Berlin Als das Villenviertel für die Stendaler tabu war
Die Deutschen und ein großer Teil der übrigen Welt erinnern sich heute an den Bau der Berliner Mauer vor genau 50 Jahren. Vielen Stendalern wird an diesem Tag eine andere Mauer in den Sinn kommen: Diejenige, die mehr als 40 Jahre lang – also viel länger als die Mauer in Berlin – ein ganzes einst wohlhabendes Viertel aus der Stadt herausriss: das Villenviertel.
Stendal. Die Stendaler war viel älter und langlebiger als die Berliner Mauer. Aber sie war nicht in dem Maße lebensgefährlich wie die berühmt-berüchtigte Schwester, die die politischen und ökonomischen Systeme trennte. Die Stendaler Mauer schied lediglich DDR-deutsches Stadtgebiet von sowjetischem Militärbereich ab. Eines haben die Stendaler und die Berliner Mauer gemeinsam: Mit der friedlichen Revolution in der DDR und der Wiedervereinigung Deutschlands hatten sie ihren Sinn und ihre Rolle verloren und wurden niedergerissen.
Leicht zu überwinden oder gar ungefährlich war auch die Stendaler Mauer nicht, die zwischen Stadtseeallee und Uenglinger Straße große Teile des Villenviertel einschließlich des Kasernengeländes "Albrecht der Bär" mit Beton und Stacheldraht abschnitt. In den Kasernen wohnten die einfachen Soldaten, in den Villen die Offiziere mit ihren Familien.
Es gab bewachte größere Passierstellen und kleinere Durchgänge, einen davon in der Adam-Ileborgh-Straße, dem damaligen Wilhelm-Florin-Ring. Djulietta R., eine in Stendal lebende sowjetische Staatsbürgerin, die an einer deutschen Schule als Russisch-Lehrerin arbeitete, wohnte ganz in der Nähe und benutzte die Mauerlücke gern. Denn gleich auf der anderen Seite lag der große Supermarkt der Garnison, das Russenmagazin. Tschechisches Bier, ungarische Salami, Thüringer Pflaumenmus, Papiertaschentücher, Ölsardinen, Ananasbüchsen, georgischer Wein – meist hatte sie eine lange Wunschliste ihrer Freunde und Kollegen dabei, die sich schon auf die in DDR-Geschäften kaum zu ergatternden Raritäten freuten.
Für Zigaretten ein Auge zugedrückt
Ihr normaler sowjetischer Pass reichte eigentlich nicht aus, um durch die Mauer gelassen zu werden; dazu brauchte es eines Militärpasses oder eines Passierscheins, wie ihn die Frauen und Kinder der Offiziere hatten. "Aber für eine Schachtel Zigaretten", erinnert sie sich, "haben die Wachsoldaten meistens ein Auge zugedrückt." Auch an jenem Tag in den späten 1970er Jahren, in der heißen Zeit des Kalten Krieges, überwand sie die Hürde problemlos. Sie hatte ihren Korb im Russenmagazin schon vollgeladen, als sie plötzlich ein Offizier ansprach und sie aufforderte, den Einkaufskorb stehen zu lassen und ihm zu folgen.
Sie wurde in einen Raum geführt und dort zunächst einmal den halben Tag lang sitzengelassen, während Offiziere und Schreiber geschäftig hin und her liefen. Irgendwann setzte sich ihr ein Offizier gegenüber. "Ich war völlig überrascht, er wusste alles von mir: dass ich aus Baku stamme, seit wann ich hier bin, wo mein Mann arbeitet, wieviel Kinder ich habe. Am Ende stellte er sich als Mitarbeiter des militärischen Geheimdienstes vor und bot mir ¿Arbeit‘ an." Reizvoll: Im Falle einer Zusammenarbeit hätte sie einen Passierschein bekommen und hätte stets legal die Mauer überwinden können. Djulietta lehnte ab mit dem Argument, sie habe schon eine Arbeit in der Schule, die fülle sie aus.
Der Mann begleitete sie dann völlig unerwartet ans Tor und verabschiedete sich freundlich. "Ich habe tagelang gezittert und vor möglichen Folgen Angst gehabt", sagt die Frau, die nach der Wende die deutsche Staatsbürgerschaft bekam. Aber nichts passierte. Später, vor allem in den Gorbatschow-Jahren, wurden die Kontrollen lax und die Mauer durchlässig, so dass sie häufig auch deutsche Freunde mit ins Magazin nehmen konnte.
Wann das Villenviertel ummauert wurde, ist nicht ganz sicher. Am 1. Juli 1945 löste die Rote Armee die Engländer und Amerikaner in Stendal ab. Die zahlreichen militärischen Objekte der Sowjets im Stadtgebiet – außer Albrecht der Bär und dem konfiszierten Villenviertel die Tauentzin-Kaserne an der Osterburger Straße, die Hindenburg-Kaserne am Wasserturm, das Neue Lager an der Osterburger Straße, der Flugplatz Borstel, die ehemaligen Wehrmachtsspeicher an der Arneburger Straße und die "Russenbäckerei" an der Heerener Straße – wurden zunächst von einfachen mannshohen Holzplanken umgeben. Später kam ein Stacheldrahtaufsatz drauf. Zu Gorbatschows Zeiten wurden die Planken durch Betonfertigteile ersetzt.
Betonteile mit nach Hause genommen
Die Mauern mit ihrem schmückenden Kassettenrelief gehörten fast selbstverständlich zum Stadtbild, und manch Stendaler war etwas irritiert, als ab Februar 1991 die Kasernen nach und nach geräumt und die Mauern abgerissen wurden. Die Betonteile nahmen die ehemaligen Besatzer mit nach Hause, um sie dort wiederzuverwenden. 1993 verließ der letzte Zug mit Sowjetsoldaten, deren "Arbeitgeber" sich jetzt GUS nannte, die Stadt Stendal. Die Stendaler konnten wieder durch die schattigen Straßen des Villenviertels spazieren. Mit der Wiederbesiedlung nach Altlastenbeseitigung und Klärung von Eigentumsfragen wich die grau-weiße Einheitstünche der Häuser allmählich frischen Beige- und Ockertönen. Der Zustand der Villen, so berichtete damals die Presse, sei besser als erwartet gewesen.
Heute erinnert kein einziges Segment mehr an die einstige Stendaler Mauer. An der Ecke Scharnhorst-/Fichtestraße hat jedoch ein ehemaliger Kontrolldurchlassposten die Zeitenwende überlebt. Er wird privat als Abstellschuppen benutzt. Nur Eingeweihte werfen ab und zu einen Blick hinter das dichte Buschwerk an einer der Schmalseiten: Dort befindet sich noch die kyrillisch beschriftete Karte der Altmark, die über die sowjetischen Truppenstandorte Auskunft gibt. Der Verfall schreitet voran.