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Städtische Volkshochschule bietet Schreib- und Lesekurse für Erwachsene Analphabeten brauchen Aufmerksamkeit

Laut einer Studie gibt es 7,5 Millionen Bundesbürger die nur
eingeschränkt lesen und schreiben können. Und auch im Landkreis Stendal
leben Analphabeten.

28.12.2013, 06:54

Stendal l "Wer nicht lesen und schreiben kann, hat keine Chance mehr auf dem Arbeitsmarkt", erzählt Carsten Schmidt (Name von der Redaktion geändert) aus einem Dorf nahe Stendal. Der 49-Jährige besucht seit vier Jahren den Schreib- und Lesekurs für Erwachsene an der Städtischen Volkshochschule. "Ich wurde einmal vom Arbeitsamt an eine Firma, die Fußböden macht, vermittelt. Meine Vermittlerin hatte mir gesagt, ich solle nicht sagen, dass ich nicht lesen und schreiben kann. Weil ich nicht lesen konnte, habe ich die falsche Mischung für den Fußboden gemacht. Dadurch entstand ein großer Schaden und ich wurde entlassen."

Laut der Level-One-Studie der Universität Hamburg vom April 2013 gibt es in Deutschland 7,5 Millionen Bundesbürger, die nur eingeschränkt lesen und schreiben können, sogenannte "funktionale" Analphabeten. Sie erkennen Buchstaben und können einfache Worte schreiben, sie verstehen jedoch beim Lesen keine ganzen Sätze und können diese erst recht nicht schreiben.

"Wir sind auf die Hilfe von Jobcenter undJugendamt angewiesen"

"Wir kommen einfach nicht an die Betroffenen heran." Das sei das größte Problem, erzählt Laut einer Studie gibt es 7,5 Millionen Bundesbürger die nur eingeschränkt lesen und schreiben können. Die Volkshochschule Stendal bietet Kurse für solche Menschen an. Nur vier nehmen am aktuellen teil. Von den 7,5 Millionen "funktionalen" Analphabeten wurden bis jetzt nur 11000 Menschen in allen deutschen Volkshochschulen erfasst, sagt Müller. Das Problem werde in Stendal einfach ignoriert. Die Volkshochschulen sind oft die einzigen Anlaufstellen für funktionale Analphabeten. "Ich verstehe nicht, warum das Arbeitsamt nichts unternimmt, obwohl sie wissen, wer nicht lesen und schreiben kann", erzählt Schmidt aus eigener Erfahrung. "Die Technik frisst einen irgendwann auf." Alles müsse einprogrammiert werden. Früher hätte er nicht einmal das Schild "Betreten verboten" lesen können.

Die Städtische Volkshochschule bietet im gesamten Landkreis als einzige Einrichtung Schreib-und Lesekurse für Erwachsene an. "Derzeit haben wir einen Kurs für Erwachsene mit nur vier Teilnehmern", bedauert Müller. "Der Kurs läuft trotzdem, weil wir Verantwortung dafür tragen wollen."

"Das Jugendamt, das Jobcenter und viele andere Behörden scheinen das Problem in Stadt und Landkreis einfach zu ignorieren." Deren Mitarbeiter als Fachkräfte haben direkten Kontakt in Beratungs-, Betreu ungs- oder Bildungsstellen. Beispielsweise erreichen Erzieher und Lehrer betroffene Eltern nur indirekt über Kinder und Jugendliche in Kindergärten und anderen Einrichtungen. Es sei unverständlich, dass bei einer Maßnahme zum Bewerbungstraining oder beim Ausfüllen eines Antrags nicht reagiert wird, wenn bei Teilnehmern eine Lese-und Schreibschwäche auffalle. Es werde nichts dagegen getan. Es müsse ein Gespräch mit den Betroffenen geführt werden, um ihnen Mut zu machen, sich an Anlaufstellen wie die Volkshochschule zu wenden, bemängelt Müller.

Problematisch sei auch, dass Betroffene oft nichts von den Angeboten wissen. "Wir erreichen sie oft nicht mit unserer Werbung oder Öffentlichkeitsarbeit, weil sie es einfach nicht lesen können", erzählt Müller. Darum spielt das Umfeld eine wichtige Rolle. "Wir können nur an deren Mitmenschen appellieren, an Behörden und Ämter, diese Menschen zu animieren, zu uns zu kommen.

Die größte Hürde ist die Scham über die Schwierigkeiten mit dem Lesen und Schreiben zu reden. Aus Angst werden die Probleme versteckt, denn die Betroffenen haben die Erfahrung gemacht, dass das Öffentlichmachen mit Ausgrenzung verbunden ist. 95 Prozent überschreiten diese Schwelle nicht. "Unsere Teilnehmer sind im Alter von 30 bis 76 Jahren. Sie kommen meist erst im höheren Alter zu uns." Eine Motivation kann sein, wenn die Kinder in die Schule kommen. Die eigenen Defizite der Eltern sollen den Kindern nicht schon in der ersten Klasse auffallen, erzählt Müller. Meist gibt der Partner den Impuls, diesen Schritt zu wagen.

"Um sich irgendwie durchs Leben zu mogeln, haben solche Menschen eigene Strategien entwickelt", erklärt Müller. Ausreden, wie: "Ich habe meine Brille vergessen", "das fülle ich zu Hause aus", gehören zum Repertoire, um unangenehmen Situationen auszuweichen. "Ich habe auch schon von Teilnehmern gehört, dass sie vor einem Automaten so lange stehen bleiben, bis irgendjemand aus der Schlange dahinter zu Hilfe kommt. Auch ein Verband um die rechte Hand gehört zu den Tricks." Arbeitskollegen füllen manchmal aus Mitleid Formulare aus.

"Es wird immer wieder Menschen geben, die durch das Raster fallen"

Meist kämen die Betroffenen von Förder- oder sogar Hauptschulen. Wer sich an einer Hauptschule unbemerkt durchgeschlagen hat, habe häufig eine größere Hemmschwelle darüber zu sprechen. "Diese Menschen haben genug gelernt, um sich durchzuschummeln. Wenn die Fähigkeiten wie Lesen und Schreiben nicht genutzt werden, gehen sie verloren." Analphabetismus wird gefördert, wenn Menschen als Kinder Gleichgültigkeit oder Ablehnung erfahren haben. Sie haben sich nicht beachtet und wertgeschätzt gefühlt. Zu Eltern und Lehrenden hat es zu wenige individuell fördernde und ermutigende Lernbeziehungen gegeben. Die häusliche Unterstützung spielt die größte Rolle.

"Es wird immer wieder Menschen geben die durch das Raster fallen." Wenn die Eltern Förderungen und Angebote zur Unterstützung ihrer Kinder nicht annehmen, weil sie vielleicht selbst nicht lesen und schreiben können, schließe sich der Kreis. "Deshalb sind wir auf Behörden und Ämter angewiesen", sagt Müller. Wer den Mut fasst, sich Hilfe zu holen, ist auf einem guten Weg. "Wir stellen nicht fest, was die Leute nicht können, sondern schauen worauf wir aufbauen können."