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Analphabeten Ohne Lesen durchs Leben mogeln

7,5 Millionen Erwachsene in Deutschland können kaum lesen und schreiben. Wie das ihren Alltag prägt, erzählt eine Ausstellung in Stendal.

Von Nora Knappe 21.09.2018, 01:01

Stendal l Schon allein das Wort dürfte denjenigen Schwierigkeiten bereiten, die es bezeichnet: funktionale Analphabeten. Es geht um erwachsene Menschen, die nicht gut lesen und schreiben können und damit vielen gesellschaftlichen Anforderungen nicht gerecht werden, am sozialen und Arbeitsleben nicht oder nur mit großen Einschränkungen teilhaben können. Menschen, die gerade mal einzelne Buchstaben erkennen und schreiben können, meist auch ihren Namen; die keinen Fahrkartenautomaten bedienen und keinen Busfahrplan lesen können, keine Speisekarte und erst recht kein Buch; die sich mit Auswendiglernen und Ausflüchten behelfen, um nicht aufzufallen und entlarvt zu werden. Die sich so immer mehr ins Abseits manövrieren, die diskrimiert und verhöhnt werden und schlimmstensfalls in Verschuldung enden – einfach weil sie die Mahnschreiben nicht lesen können.

Es geht um 7,5 Millionen Menschen in Deutschland, 200.000 Menschen in Sachsen-Anhalt. Das sind natürlich geschätzte Zahlen, denn niemand muss sich bei irgendeinem Amt als „funktionaler Analphabet“ melden. Es sind aber erstmals statistisch gültige Zahlen, die aus einer Studie der Universität Hamburg herrühren. „Erschreckende Zahlen“, findet Ludger Nagel, Geschäftsführer der Katholischen Erwachsenenbildung Sachsen-Anhalt. Er eröffnete am Mittwoch im Stendaler Landratsamt die Landesausstellung „Alphabetisierung und Grundbildung Sachsen-Anhalt“, die hier für eine Woche zu sehen ist. Als Gäste waren rund 20 Vertreter aus Verwaltung, Polizei und Beratungsstellen dabei.

Erschreckend dann auch die weiteren Zahlen: 60 Prozent der funktionalen Analphabeten sind deutsche Muttersprachler und haben die Schule abgeschlossen. Rund 57 Prozent sind erwerbstätig. Und wiederum 60 Prozent sind Männer.

Die Ausstellung erzählt am Beispiel des funktionalen Analphabeten Herrn M., der einer einfachen industriellen Arbeit nachgeht, was ihm im Alltag und im Beruf schwerfällt und warum er etwas an seiner Situation ändern möchte. Zugleich werden Akteure vorgestellt, die Hilfe und Information anbieten – von Lernwerkstatt über Lesecafé bis zu Prävention für Kitas und deren Leitung.

Betroffene erreiche man mit der Ausstellung wohl eher nicht, räumte Ludger Nagel ein – auch wenn die Texte in einfacher Sprache verfasst sind. Den Ausstellungsmachern gehe es in erster Linie darum, Multiplikatoren zu erreichen: „Wir wollen die Mitarbeiter in öffentlichen Verwaltungen, in Beratungsstellen und Betrieben für das Thema und die Betroffenen sensibilisieren.“ Nur so komme man nach und nach an die eigentliche Zielgruppe. Der Politik fehle es noch an Bewusstsein über diese gesellschaftliche Problematik.

Ganz nah dran hingegen sind die Mitarbeiter der Ländlichen Erwachsenenbildung. Ralf Gladigau, LEB-Geschäftsführer aus Magdeburg, veranschaulichte die Sache mit einem Vergleich, an die Zuhörer gerichtet: „Sie und ich, wir haben mal alle Russisch gelernt. Was ist von diesen Kenntnissen übrig, wie hilflos stammeln wir uns da etwas zurecht? Aber funktionale Analphabeten sind in ihrer Muttersprache hilflos! Sie scheitern am Busfahrplan, besuchen kein Museum, lesen kein Buch.“

Wie es dazu kommen kann, obwohl diese Menschen die Schule absolviert haben, führt er darauf zurück, dass für viele von uns mit Abschluss der Berufsausbildung keine Notwendigkeit mehr bestehe, sich weiterzubilden, „Kenntnisse und Fähigkeiten geraten in Vergessenheit, man übt nicht mehr, lernt nicht mehr hinzu“. Ein Teufelskreis, in dem man gefangen bleibt – die Angst davor, entdeckt und bloßgestellt zu werden, lähmt.

„Das alles führt letztlich zu einer gesellschaftlichen Außenseiterstellung“, sagte Carola Schmidt von der Stendaler LEB. Auch Diskriminierung am Arbeitsplatz sei in solchen Fällen nicht selten. Die schönste Bestätigung dafür, dass die LEB eine wichtige und richtige Hilfe leiste, war für Schmidt einmal die Äußerung eines Kursteilnehmers in Salzwedel: „Ich fühle mich das erste Mal in meinem Leben ernstgenommen.“ Ihr Appell an die Zuhörer an diesem Tag: „Erkennen Sie Betroffene, nehmen Sie sie ernst und machen Sie ihnen Mut.“

Bei der LEB in Stendal finden Kurse zur Alphabetisierung statt. Der nächste Kurs „Besser Lesen und Schreiben für Erwachsene“ beginnt am 1. Oktober, dauert 9 Monate und findet an zwei Tagen pro Woche statt. An drei Tagen erfolgt eine Beschäftigung in Arbeitsgelegenheiten (bei Zuweisung durchs Jobcenter). Kontakt: Ländliche Erwachsenen-Bildung (LEB), Stadtseeallee 1, Stendal, Tel. 03931/51 97 88. Ansprechpartnerin ist Marion Zempel, E-Mail: marion.zempel@leb.de