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DigitalprojektHerr Klinke fährt im Heim Motorrad

Kegeln, Tanzen, Motorrad fahren - das passiert im Stendaler DRK-Seniorenzentrum neuerdings digital. Videospiele als Therapie?

Von Nora Knappe 21.02.2019, 00:01

Stendal l Videospiele halten neuerdings in Alten- und Pflegeheimen Einzug. Fünf Einrichtungen in Sachsen-Anhalt gehören zu den Testern eines „therapeutisch-computerbasierten Gesundheitsprogramms“ namens MemoreBox. Das Stendaler DRK-Seniorenzentrum „Am Schwanenteich“ ist seit einer Woche für ein Jahr dabei. Fünf Bewohner des Hauses werden das neue Element zur Gesundheitsförderung und Prävention ausprobieren, ihre Ergebnisse werden direkt an die Berliner Charité übermittelt und fließen dort in die bundesweite Auswertung der 100 teilnehmenden Pflegeeinrichtungen.
„Herrn Klinke würden wir sonst nicht zum Tanzen bewegen.“ Kerstin Jurczyk, Leiterin des DRK-Hauses, staunt und freut sich, wie der 80-Jährige gemeinsam mit Rosemarie Muhs in Bewegung kommt. Füße tippen links und rechts, Arme werden geschwungen. Dabei ist Manfred Klinke gerade erst eine Runde Motorrad gefahren, über Leipzig nach Wittenberg, und Rosemarie Muhs hat schon eifrig gekegelt. Alles nur am Bildschirm, eine Kamera erfasst die Bewegung der Person, die so das Geschehen beeinflusst. Sport ohne Sportgeräte also. Man tut nur so und tut doch unwillkürlich etwas.
Beide Senioren wirken regelrecht beseelt – und sind auch ein wenig außer Puste. „Besser wie nüscht tun, da merkt man schon was“, sagt Klinke mit einem verschmitzten Lachen und rollt noch mal mit der Schulter, fasst sich an die Oberarmmuskeln. Früher war er im Volkstanz aktiv, aber Motorrad ist er noch nie gefahren – „immer nur Zug“. Rosemarie Muhs hat früher gar keinen Sport gemacht und findet nun das Kegeln am Bildschirm ziemlich gut. „Das hat großen Spaß gemacht“, sagt sie.
Der Spaß ist den Initiatoren des Projekts ein willkommener Nebenfaktor. Der tiefere Sinn sei jedoch eine Verbindung von Spiel beziehungsweise Bewegung mit Prävention und Therapie in der stationären Pflege. „Es soll den älteren Bewohnern das Gefühl vermittelt werden, dass sie sich mit Freude bewegen können und dabei ihre Koordinations- und kognitiven Fähigkeiten stärken“, sagt Axel Wiedemann, Landesgeschäftsführer der Barmer Sachsen-Anhalt, die das Projekt hier gemeinsam mit dem Hersteller RetroBrain R&D umsetzt – wissenschaftlich begleitet von der Humboldt-Universität Berlin, der Alice-Salomon-Hochschule Berlin und der Charité.
Aber eigentlich könnten Frau Muhs und Herr Klinke doch auch ohne Bildschirm, nun gut, vielleicht nicht unbedingt Motorrad fahren, aber tanzen, kegeln, singen und auch Tischtennis spielen – wie es über die Spielkonsole angeboten wird – oder einfach auf die Sportgeräte im benachbarten Park gehen. Und sicherlich spielen sie doch im Alltag ohnehin, haben dadurch lustige gemeinsame Erlebnisse, fördern ihr soziales Miteinander und den Grips?
Auf die Skepsis antwortet Michael E. W. Ney, DRK-Digital-Projektkoordinator: „Es soll das andere Spielen und den anderen Sport und auch nicht die Betreuung ersetzen, sondern ergänzen. Und die Therapie individualisieren.“ Schließlich sei es auch eine Erleichterung für Senioren, die im Rollstuhl sitzen, für die so mancher Ausflug zu einem aufwendigen Vorhaben werde, und die auf diese Weise wieder aktiver sein könnten. „Sie können damit wieder Dinge tun und erreichen, von denen sie glaubten, dass sie das nicht mehr schaffen.“ Das Ganze verliere den Ernst und das mitunter Abschreckende offensichtlich-therapeutischer Absichten, wecke durch die spielerische Atmosphäre eine viel größere Bereitschaft zum Mitmachen.
Interessanterweise sprächen die Senioren in den Testeinrichtungen bislang sehr gut darauf an. „Man sollte ältere Menschen nicht von vornher­ein von digitalen Angeboten ausschließen“, so Wiedemann. Die Bedienung der Spielkonsole sei sehr einfach, funktioniere ohne Zusatzgeräte, nur über Bewegungen – ein Kamerasensor macht‘s möglich.
„Ich habe mich auch erst gefragt, warum nun ein Computerspiel, aber ich bin jemand, der nicht gern von vornherein nein sagt“, schildert DRK-Heimleiterin Kerstin Jurczyk ihren ersten Eindruck. Und schon nach den ersten Tage Probephase sehe sie die Vorteile: „Die Menschen gehen ganz darin auf, vergessen ihre Ängste vor Bewegungen.“ Gerade in der Sturzprophylaxe könne das Programm aus ihrer Sicht hilfreich sein.
Und das Strahlen in den Gesichtern von Rosemarie Muhs und Manfred Klinke scheint ihr Recht zu geben.