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Prof. Ulrich Nellessen Erfahrungen eines Migranten

07.02.2015, 01:20

Er kam von weit her, von einem anderen Kontinent - da wo Armut, Unterdrückung, Gewalt und Folter herrschen. Doch in Wahrheit ist es fast nebenan, nur ein paar Flugstunden von uns entfernt. Wie so viele andere junge Leute in seinem Land erkannte er die Chancenlosigkeit, aus seinem Leben etwas zu machen, sich zu bilden, sinnvoll zu lernen, frei zu diskutieren. Sie demonstrierten deshalb gegen das Regime.

Dessen Vertreter fühlten sich bedroht, antworteten mit dem Maschinengewehr oder warfen sie ins Gefängnis, ließen sie dort hungern, fesselten ihnen die Hände auf den Rücken, stellten dann den "Fressnapf" auf den Boden, ließen sie stundenlang bis zum Hals im Wasser stehen, drückten ihre Zigaretten auf ihrer nackten Haut aus, denn sie zum devoten Kadavergehorsam gegenüber dem Regime zu erziehen war das Ziel.

Kopfschütteln über die Deutschen

Als sie frei kamen, wollte er sich - wie viele andere - nicht anpassen, auch nicht zum Terroristen werden, also kehrte er seiner Heimat den durch Brandnarben entstellten Rücken zu, ging nach Deutschland und fasste dort Fuß.

Geben wir nun ihm das Wort:

"Ich möchte nicht mehr aus Deutschland weg. Alles ist geregelt, es herrscht Ordnung und Disziplin. Ich kann mich frei entfalten, muss kein fremdbestimmtes Leben führen und kann tun und lassen was ich will. Über die Deutschen muss ich manchmal den Kopf schütteln: Trotz eures Wohlstandes scheint ihr oft in Angst zu leben, seid aggressiv, einsam, habt wenig Unterstützung durch Familie oder Freunde, erfahrt kaum Trost, wenn es euch schlecht geht, seid wenig hilfsbereit. Eure Ansprüche sind grenzenlos. Wir fragen uns, ob wir am nächsten Tag etwas zu essen haben. Ihr fragt euch, welches Auto als nächstes gekauft werden soll. Spenden gebt ihr für die Armen, doch in Wahrheit schaut ihr weg, wollt nur euer schlechtes Gewissen beruhigen. Die Ungleichheit auf dieser Welt halten die Armen nicht mehr aus. Sie wissen um euren Wohlstand und klagen euch an: Wie könnt ihr eure Nachbarn verhungern lassen, während ihr in Saus und Braus lebt. Reichtum und Wohlstand haben euch kalt und herzlos gemacht."

Wohlstand entstand nicht allein aus harter Arbeit

Wie eine solche Einschätzung zu werten ist, muss jeder für sich selbst entscheiden. Zumindest sollten wir aber der Tatsache ins Auge sehen, dass unser Wohlstand nicht ausschließlich durch harte Arbeit entstanden, sondern auch ein Produkt der unverändert anhaltenden Ausbeutung der Armen ist, sodass auch wir an ihrer Chancenlosigkeit mit all seinen Folgen nicht völlig schuldlos sind.

Prof. Ulrich Nellessen ist Ärztlicher Direktor des Johanniter-Krankenhauses Stendal-Genthin und kommt einmal im Monat an dieser Stelle zu Wort