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Holger Stahlknecht "Das Land muss vorbereitet sein"

Innenminister Holger Stahlknecht (CDU) spricht über den Sinn und Zweck der geplanten Erstaufnahmeeinrichtung für Asylsuchende in Stendal.

Von Bernd-Volker Brahms 20.03.2018, 12:03

Volksstimme: Herr Stahlknecht, mit wie vielen Flüchtlingen rechnen Sie in der nächsten Zeit?

Holger Stahlknecht: Wir orientieren uns an den Berechnungen des Bundes, die davon ausgehen, dass jährlich rund 200.000 Schutzsuchende zu uns kommen. Nach dem Königssteiner Schlüssel, der die Verteilung regelt, bekommen wir in Sachsen-Anhalt drei Prozent. Das sind dann etwa 6000 Menschen.

Dafür brauchen wir die große Aufnahmeeinrichtung in Stendal?

Ja, die benötigen wir. Denn trotz der im Vergleich zu 2015/16 rückläufigen Zugangszahlen ist klar, dass wir neben Halberstadt dauerhaft eine weitere Erstaufnahmeeinrichtung benötigen.

Sie haben im September 2015 bekanntgegeben, dass in Stendal eine große Landesaufnahmeeinrichtung entstehen soll. Seinerzeit war der Höhepunkt des Flüchtlingszuzugs in Deutschland. Warum hat es noch solange gedauert, bis das Projekt jetzt umgesetzt wird?

Die Umsetzung des Projektes in Stendal ist ja nicht allein eine Entscheidung in meinem Haus, sondern auch in dem des Finanzministeriums. Die Grundsatzentscheidung fiel mit dem Unterbringungskonzept von Schutzsuchenden in den Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes Sachsen-Anhalt im November 2016. Die konkrete Umsetzung erfolgte schließlich mit einer Kabinettsvorlage des Finanzministeriums, weil dieses den Bau und die Finanzierung verantwortet.

Wir mussten erst auch noch einen Bescheid vom Bund abwarten, der rund 22 Millionen Euro dazu gibt. Es geht ja um die Sanierung und Herrichtung einer Bundesimmobilie. Den Bescheid haben wir erst im März 2017 bekommen.

Ihnen war schon 2015 klar, dass der Bund eine hohe Summe dazu gibt?

Ja. Das wurde schon im Januar 2016 im Finanzausschuss debattiert. Wir hatten anfangs sogar die Hoffnung, dass der Bund 100 Prozent bezahlt. Im Laufe des Jahres 2016 kristallisierte sich heraus, dass der Bund rund 22 Millionen Euro gibt und wir etwa sieben bis acht Millionen Euro.

Wie sind Sie 2015 auf Stendal als Standort gekommen? War das eine kurzfristige Entscheidung?

Nein. Der Bund hatte in der damaligen Situation angedeutet, dass er bei Bundesliegenschaften die Kosten tragen würde, wenn diese für Flüchtlingsunterkünfte hergerichtet würden. Wir haben in Sachsen-Anhalt nicht viele leerstehende Bundesliegenschaften. Wir haben nicht nur in Stendal gesucht. Wie schon gesagt, es war eine finanzpolitische Entscheidung, da viel Geld vom Bund in Aussicht stand. Bei anderen Liegenschaften hätten wir alles selbst bezahlen müssen. Eine Rolle hat auch die Lage gespielt, die überprüft werden musste. Und da sind wir der Meinung, dass Stendal ein guter Standort ist.

Wieso?

Die Situation in Stendal ähnelt der in Halberstadt, wo sich seit vielen Jahren die Zentrale Anlaufstelle für Asylbewerber in Sachsen-Anhalt befindet. Dort hat sich das Modell bewährt.

Wie haben Sie eigentlich den Sommer 2015 erlebt? In anderen Regionen schien es recht chaotisch zuzugehen. Es mussten Turnhallen belegt werden. In Sachsen-Anhalt lief alles es recht geordnet ab.

Es war die anstrengendste Zeit meiner Amtsphase. Ich habe in dem Jahr keinen Urlaub gehabt. Als ich Ostern Urlaub machen wollte, brannte Tröglitz ab. Ein Haus, wo ja auch Flüchtlinge untergebracht werden sollten. Dann kam der Sommer mit den Flüchtlingen. Mit ganz wenigen Tagen der Erholung habe ich durchgearbeitet. Ich habe damals hier im Büro gesessen wie jetzt und habe überlegt, wohin mit den Menschen. Das war das Hauptproblem. Auch um den sozialen Frieden zu halten.

Ich stand in der Verantwortung, die Menschen unterzubringen. Und zwar vor dem Winter. Sie sollten aus den Turnhallen und Zelten raus. Dabei haben meine Mitarbeiter und ich die gleichen Bedenken und Sorgen in der Bevölkerung erlebt, wie jetzt in Stendal. Ich kann das nachvollziehen, muss aber gleichzeitig der Verantwortung für das Land insgesamt nachkommen. Das muss man aushalten.

Haben Sie eine Lehre daraus gezogen?

Ich habe mehrere Lehren daraus gezogen. Prägende Erinnerungen – neben der schweren Verantwortung – waren drei Veranstaltungen mit Bürgern in Quedlinburg, in Halle und in Magdeburg. Jedes Mal waren die Räume knallvoll. In Halle hochemotional, in Magdeburg super hochemotional, da ging es richtig zur Sache. Eines habe ich da gelernt. Man muss sich vorne hinstellen, zuhören, aushalten sowie ruhig und sachlich bleiben. Man muss versuchen, zu überzeugen und auch dahin gehen, wo es wehtut. Man gewöhnt sich da auch eine andere Gelassenheit im Umgang mit schwierigen Dingen an.

Die zweite Lehre war, dass wir besser vorbereitet sein müssen, wenn mal wieder mehr Flüchtlinge kommen sollten. Das dritte ist natürlich eine Verfeinerung der Kommunikation mit den betroffenen Landräten und Bürgermeistern. Das haben wir auch bestmöglich umgesetzt.

Es hat also in den letzten zweieinhalb Jahren Gespräche auch mit Stendalern Verantwortungsträgern gegeben?

Ja. Es gibt dazu unzählige Dokumente und Protokolle.

Wie bewerten Sie jetzt den Vorstoß von Hardy Peter Güssau, in Stendal eine Umfrage zum sozialen Frieden zu initiieren?

Für mich ist entscheidend, dass wir das Land so aufstellen, wie es das Unterbringungskonzept vom November 2016 vorsieht. Dabei sind wir auf einem guten Wege. Ein zentrales Ziel war es, die Zahl der Plätze in den Erstaufnahmeeinrichtungen des Landes bis Ende 2017 zu halbieren. Dieses Ziel ist umgesetzt und erreicht.

Nun geht es darum, das zweite zentrale Ziel, nämlich mittelfristig zwei Standorte für die Erstaufnahme vorzuhalten und am zweiten Standort die Voraussetzungen für die Unterbringung von besonders Schutzbedürftigen sicherzustellen, umzusetzen. Zu diesen Personen gehören Traumatisierte, allein erziehende Frauen und ehemals Verwundete. Diese EU-Standards können wir in Halberstadt aus baulicher Sicht gar nicht erfüllen.

Wann werden die ersten Menschen dort einziehen?

Wenn es gut läuft, werden wir frühestens Ende 2019 mit einer kleinen Belegung beginnen. Erst muss der Bau fertig werden. Der Zeitplan ist optimistisch, es kann auch 2020 werden, bis die ersten untergebracht werden können.

Sie haben unlängst gesagt, dass sie nur eine maximale Belegung von 600 Menschen anstreben. Warum gehen sie denn nicht von der Kapazität von 1000 herunter?

Das ist überhaupt kein Widerspruch. Das war von vornherein klar. Wir haben von Anfang an gesagt, wir bauen 1000 Plätze. Das machen wir auch. Das ist für mich auch nicht verhandelbar, es gibt einen Kabinettsbeschluss. Gleichzeitig wissen wir, dass – abgesehen von Ausnahmesituationen wie 2015/16 – nie alle Betten zu 100 Prozent belegt werden können. Dies hat seinen Grund in den unterschiedlichen Ethnien, Familienzusammenhängen, Baumaßnahmen oder hygienischen Standards. Zusätzlich planen wir noch mit einem Puffer, so dass wir, sofern es bei den jetzigen Zugängen bleibt, von einer Belegung mit 600 Menschen ausgehen.

Die zentrale Erstaufnahmeeinrichtung des Landes ist in Halberstadt. Der Landkreis Harz ist daher bei der Zuweisung von Schutzsuchenden entlastet. Wird das in Stendal auch der Fall sein?

Ich will mich gemeinsam mit dem Landkreis Stendal und dem Landkreis Harz dafür einsetzen, dass in die Aufnahmekommunen mit Erstaufnahmeeinrichtungen keine Zuweisung mehr von Schutzsuchenden erfolgt. Wir wollen von der Verteilung auf den Status quo ante von 2015 wieder zurückfallen. Damals bekam der Harz keine zusätzlichen Flüchtlinge, da ja schon die Erstaufnahme da war. Das haben wir auch mit Landrat Wulfänger so beredet.

Wie lange werden die Menschen in etwa in der Stendaler Einrichtung verbringen?

Nach dem jetzigen Stand maximal sechs Monate. Wenn noch nicht über den Aufenthaltsstatus entschieden wurde, müssen wir nach den gesetzlichen Regelungen trotzdem die Menschen auf die Landkreise verteilen. Wir haben im Augenblick die Strategie, dass wir die Abschiebungen vorrangig aus den Landesaufnahmeeinrichtungen durchführen. Damit sie gar nicht erst auf die Gemeinden verteilt werden, wenn erkennbar ist, dass sie keine Bleibeperspektive haben.

Diese Strategie hat sich bewährt, wir haben 2017 etwa 30 Prozent der Abschiebungen aus den Landesaufnahmeeinrichtungen heraus vorgenommen. Und wir werden auch aus Stendal abschieben. Es kann aber sein, dass die Verweildauer künftig länger als sechs Monate sein wird, da es beim Bundesgesetzgeber Überlegungen gibt, dass die Aufenthaltsdauer auf 18 Monate festgelegt wird.

Ich unterstützte – mit Horst Seehofer – dieses Vorhaben. Wenn die Leute erst auf die Gemeinden verteilt sind, dann kriegt man sie so gut wie nicht mehr abgeschoben. Ich möchte, dass konsequenter abgeschoben wird. Dies muss aus den Erstaufnahmeeinrichtungen passieren.

Wenn der Maximalaufenthalt bei sechs Monaten liegt, wird die Beschulung von Kindern sicherlich kein Faktor sein, oder?

Ja richtig. Solange Kinder in der Erstaufnahmeeinrichtung sind, besteht keine Schulpflicht. Die Schulen vor Ort werden nicht involviert. Wenn man langfristig denkt, wird der Landkreis eher entlastet, was die Unterbringungen von Kindern in Kitas und Schulen angeht.

Die Einrichtung in Stendal soll als sogenanntes Betreibermodell laufen. Private Firmen sollen Aufgaben erledigen. Kann das funktionieren?

Nein, das Land betreibt die Einrichtung. Dienstleistungen werden dazu gekauft. Man muss es deutlich sagen, die Einrichtung hat für Stendal auch einen wirtschaftlichen Effekt. Es können bis zu 100 Arbeitsplätze dadurch entstehen. Ob das Bewachungsdienst ist oder die soziale Betreuung oder die Verpflegung. Darüber hinaus gibt es dann noch mittelbare Aufträge wie Handwerkerleistungen.

Was wird dann überhaupt noch von staatlicher Seite gemacht?

Die hoheitlichen Aufgaben. Die Verteilung, Zuweisung und so weiter.

Wie viele Arbeitskräfte sind das etwa?

Rund 20 Personen.

Es steht eine Summe von jährlich 13 Millionen Euro als Betriebskosten im Raum. Das klingt sehr viel. Was steckt da alles drin?

Das ist eine Planungsgröße, die sich an den Kosten in Halberstadt, Magdeburg und Klietz orientiert. Zu den eben erwähnten Vergabeleistungen kommen Verbrauche für Strom, Wasser und Heizung. Aber alles in allem lässt sich die Höhe der Betriebskosten der Landesaufnahmeeinrichtung Stendal zum jetzigen Zeitpunkt noch nicht seriös beziffern. Es ist jedoch davon auszugehen, dass die Unterbringung in einer zentralen Einrichtung in Stendal im Vergleich zu drei dezentralen Einrichtungen zu Kosteneinsparungen führt.

Inwiefern haben Stendaler die Möglichkeit, sich ehrenamtlich einzubringen, wenn die Menschen hierher kommen?

Wir kennen das von Halberstadt. Da bringen sich eine Reihe Menschen ehrenamtlich ein. Da werden Angebote zum Sport gemacht oder in kultureller Hinsicht. Es kann in Stendal aber auch eine Begegnungsstätte entstehen. Menschen können und dürfen sich sehr gerne ehrenamtlich einbringen. Umgekehrt kann auch der örtliche Fußballverein sich dort mal umsehen und gucken, wer spielt von denen ganz gut Fußball und kann im Verein mitspielen. Aus meiner Sicht ist die beste Möglichkeit zur Integration der Sport. Das geht natürlich nur mit Leuten, die eine Bleibeperspektive haben.

Die Einrichtungen kommt ja in Stendal in die ehemalige Grenztruppenkaserne. Gibt es Überlegungen, dass die Geschichte des Ortes dokumentiert wird beispielsweise durch Schautafeln?

Da hatten wir vorher noch nicht drüber nachgedacht. Aber ich finde das eine sehr gute Idee. Das kostet nun ja auch wohl nicht so viel. Ich würde es gut finden, wenn die besondere Geschichte des Ortes präsent ist. Ich habe im Übrigen einen kleinen Teil der Geschichte miterlebt. Als dort nach der Wende für einige Zeit die Staatsanwaltschaft untergebracht war, da war ich ein paar Mal dort. Außerdem bin ich ja bekanntermaßen Reserveoffizier. In Stendal war das Verbindungskommando. Ich habe da auf dem Gelände meine Wehrübungen gemacht. Weil es keine gute Gelegenheiten zum Joggen gab, bin ich öfter auf dem Sportplatz die Tartanbahn entlang gelaufen.

Können Sie verstehen, dass bei den Stendalern derzeit große Sorgen hinsichtlich der Erstaufnahmeinrichtung bestehen?

Ich habe großes Verständnis. Die Sorgen der Menschen muss man ernst nehmen. Insofern ist es gut, dass wir die Bürgerversammlung jetzt am Mittwoch machen. Die hatten wir übrigens schon länger geplant und nicht erst seitdem vor kurzem die Diskussionen aufgeflammt sind. Ich kann verstehen, dass man keine Freudenstürme auslöst, wenn man mit so einer Einrichtung kommt. Wir nehmen die Sorgen auf.

Umgekehrt müssen Bürger auch verstehen, dass, wenn man Verantwortung trägt, auch Entscheidungen getroffen werden müssen, die nicht immer auf Zustimmung treffen. Wenn wir Politik nur noch nach TED-Umfragen machen, dann wird ein Land regierungsunfähig. Ich kann meinen Entscheidungen nicht daran ausrichten, wo ich den meisten Applaus erhalte. Dann wäre ich falsch im Amt. Ich stehe für die Dinge ein. Ich habe eine gerade Linie, bin offen, transparent und höre mir alles an. Und da, wo Anregungen sind, nehme ich diese auf. Am Ende muss ich aber entscheiden, ich habe die Verantwortung.