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Auftakt der Volksstimme-Serie "Hinter alten Inschriften" / Kelterei und Brennstoffhandel der Familie Grasshoff Mostrich aus dem Bottich für fünf Pfennig

Von Irene Bartkowski 06.08.2011, 04:30

Heute startet die Volksstimme mit einer neuen Serie: "Hinter alten Inschriften". Wir schauen hinter die Fassaden historischer Gewerbe in Stendal und Umgebung. Wir spüren die Menschen hinter diesen Schriftzügen auf und lassen sie ihre Geschichte erzählen. Denn Inschriften weisen zumeist auf alte Läden und Geschäfte hin, zeugen von Historie, Tradition, und von vergangenen Zeiten. Heute Teil 1: "Kelterei und Brennstoffhandel Grasshoff".

Stendal. 63 Jahre - genauso lange wohnt Eva Ranke in der Nicolaistraße 29. Als sie dorthin zog, war sie gerade einmal 22 Jahre alt. Im Jahr 1948 heiratete sie dann auch Hans Grasshoff und stieg ins Familienunternehmen ein.

In dem wurde vor allem viel Süßes und Saures produziert: Essig, Fruchtsirup, Senf, Süßmost - aber auch Weine und Liköre. Ein anderer Schwerpunkt war der Holz- und Kohleverkauf.

Bereits 1919 kaufte Eva Rankes Schwiegervater Wilhelm das Grundstück samt Haus und gründete seinen eigenen Betrieb. Meist wurden Konservenfabriken beliefert. Doch die Familie hatte darüberhinaus auch einen kleinen Laden, in dem sie ihre Kunden bedienten.

Ein ganzer Po voll mit süßem Mostrich

"Das Geschäft lief damals sehr gut", erinnert sich die heute 85-jährige Eva Ranke. "Für fünf Pfennig konnte man sich Mostrich aus einem Bottich ziehen." Dann lacht sie. "Ich kann mich noch gut an einen Mann erinnern, der seinen Becher in die Gesäßtasche steckte und nicht merkte, wie er auslief. Sein ganzer Po war voller Mostrich", erzählt die alte Dame - und ihre Augen beginnen, vor lauter Gelächter zu glänzen. Eine Geschichte, die schon viele Jahrzehnte zurückliegt, doch für Eva Ranke noch immer sehr präsent scheint.

Der Mostrich wird hier nicht mehr verkauft. Nur noch ein alter, fast abgeblätterter Schriftzug über dem Tor in der Nicolaistraße verrät, was hier einst produziert wurde. Mittlerweile sind die Bereiche des Familienunternehmens geschrumpft.

Der Betrieb lebt noch vom Verkauf von Kohle, Brennholz und Apfelsaft. Heute kann man nur erahnen, was sich innerhalb der vergangenen fast 100 Jahre auf dem 2000 Quadratmeter großen Gelände abgespielt hat. Während eines Rundgangs über den Hof zeigen der heutige Inhaber des Betriebs, Jörg Fiedler, und die Tochter von Eva Ranke, Eva Maria Steinmeyer, auf drei alte Fabrikgebäude. Hier waren immer rund 30 Mitarbeiter beschäftigt, während der Saison sogar meist viel mehr.

Der Betrieb wurde 1972 zwangsenteignet

1972 wurde das florierende Unternehmen von staatlicher Seite zwangsenteignet. Die Rückgabe erfolgte erst 2001.

Bereits 1989 übernahm der gebürtige Stendaler Jörg Fiedler die Führung des Unternehmens, das davor von Eva-Maria Steinmeyer geleitet wurde, die aus ihrer Kindheit noch viele Erinnerungen an den damaligen Betrieb hat. Mit dem heutigen Geschäft ist Fiedler sehr zufrieden: "Zwar ist die Arbeit körperlich sehr anstrengend, dafür verkaufe ich pro Jahr aber rund eine Million Tonnen Kohle."