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Theater Wenn ein Video Seelen zerstört

"4min 12sek" ist ein Stück am Stendaler Theater, das einen Warnhinweis benötigt. Es ist ein drastisches Stück über die digitale Welt.

Von Nora Knappe 25.10.2019, 01:01

Stendal l Man kann das Schlimme negieren, kann das Unfassbare kleinreden und immer darauf hoffen, dass alles Unglück an einem vorbeizieht. Doch manchmal erwischt einen das Böse eiskalt und es nützt nichts, die Augen davor zu verschließen. Sich der Realität stellen, heißt es dann so banal wie überfordernd.

Zum Beispiel: Da erfahren Eltern, dass im Internet plötzlich ein Video kursiert, das den eigenen Sohn beim Sex mit der Exfreundin zeigt, ihn gar zum Vergewaltiger macht. Kann das sein? Ist das echt? Wer hat es überhaupt im Netz hochgeladen? Wer ist Täter, wer Opfer? Wie konnte es dazu kommen? Haben die Eltern versagt? Was ist wahr? Und ist das überhaupt alles so schlimm – Handyfilme ins Netz stellen, das macht doch jeder...?

„4min 12sek“ heißt das Stück in der Regie von Jochen Gehle am Theater der Altmark, das diese Fragen auf die Bühne bringt. Schonungslos, verstörend, ja, seelisch radikal. So jedenfalls ist der Eindruck aus einer Probe, die die Volksstimme diese Woche besuchen konnte. Intensiv ist das Spiel von Kristina Papst und Matthias Hinz, die die Eltern des Sohnes mimen. Meint man anfangs noch, sich in einer Abwandlung von „Der Gott des Gemetzels“ zu befinden, wird man rasch eines Besseren belehrt. Hier geschieht Ernsteres, Drastischeres. Es ist mehr als ein in spitzen, flinken Wortwechseln zur Schau getragener Familienkonflikt. Jeder stülpt dabei sein Eigenes nach außen, entblättert das eigene Innere Schicht für Schicht. Qualvoll, aber unumgänglich. Vertrauen wird erschüttert, Gewissheiten bröckeln.

Kristina Papst und Matthias Hinz lässt ihr Spiel nicht kalt. Klar, Schauspieler bringen die verschiedensten, die ab­strusesten, unglaublichsten Lebenswelten auf die Bühne. Freilich fließen dabei eigene Erfahrungen ein, wird ein Teil des eigenen Lebens zum Teil des Stücks. Wirklichkeit wird Spiel, Spiel wird Wirklichkeit. Aber das ist nicht immer lustig, und schon gar nicht streift man den Mantel der jeweiligen Rolle beim Verlassen des Theaters einfach so ab. Erst recht nicht bei einer Inszenierung wie „4min 12sek“.

„Es ist nicht wie bei anderen Stücken, hier geht es ziemlich ans Eingemachte“, sagt Hinz. So wie der Vater, der erst so nach und nach die Puzzleteile des Geschehens umdreht, im Lauf des Stücks durchleuchtet wird, so sehr entdeckt dabei auch Hinz sich selbst: „Man stößt auf den ein oder anderen Abgrund, den man plötzlich auch bei sich selbst findet. Es kommt einiges aus der eigenen Vergangenheit zutage, das man auf diese Weise neu bewerten kann.“

Stark mit dem eigenen Leben konfrontiert sieht sich Kristina Papst. Sie lässt das Wort Mobbing fallen, als sie sagt: „Meine Kindheit war nicht eine von den schönsten.“ Das war in den 80er, 90er Jahren, „als es noch kein Internet und keine Handyvideos gab, also auch keine Beweise“. Die eigene Scham sei für sie das Allerschlimmste gewesen, „obwohl sich eigentlich die anderen schämen sollten“. Jene also, die ihr Demütigung angetan haben, und auch die, die es geschehen ließen. Das Thema geht Kristina Papst sehr nah und es berührt und erschüttert sie, „wie viele Selbstmorde junger Menschen es gibt, weil sie es einfach nicht mehr aushalten“. Sie kennt also die Perspektive des Opfers, darum sei es für sie „interessant, diese Situation jetzt aus einer anderen Position zu spielen“.

Aber auch dem Publikum wird mit „4min 12 sek“ einiges abverlangt. Gelöst und nonchalant wird wohl keiner den Saal verlassen – höchstens, um die eigene Irritiertheit, die eigene Bewegtheit zu kaschieren.

Nicht umsonst ist „4min  12sek“ mit dem Siegel P 16 versehen, Jochen Gehle bezeichnet es dezidiert als "ein Stück für Eltern". Es werde zwar keine Pornografie gezeigt, „aber es gibt für das Geschehen eine Umsetzung, die das Sinnliche sichtbar macht“. Die Altersbeschränkung gründet für ihn allerdings noch tiefer: „Der moralische Konflikt wird nicht aufgelöst, wir zeigen sehr viel seelische Zerstörung, dessen muss man sich als Zuschauer bewusst sein. Das Stück hat eine große Intensität in der Auseinandersetzung mit den menschlichen Abgründigkeiten.“

Entlang einer krimihaften Erzählstruktur begleiten die Zuschauer die Mutter dabei, wie sie versucht herauszubekommen, was wirklich passiert ist. Wie das Leben selbst ist auch diese Geschichte nicht linear – glaubt man, eine Gewissheit erlangt zu haben, wird sie im nächsten Moment durch neue Fakten, durch veränderte Sichtweisen verwirbelt, umgeworfen, kopfgestellt. Das Publikum bekommt keine Lösung serviert, die Überforderung der Gesellschaft durch den digitalen Wandel, die diese sich vielleicht nur noch nicht eingestanden hat, kann auch im Theater nicht einfach weggespielt werden.

Nicht nur, weil er als Vater eines 17-jährigen Sohnes und einer zehnjährigen Tochter sehr nah an der Thematik dran ist und seine Kinder beim Aufwachsen in der zunehmend digitalen Lebenswelt begleiten muss, ist Jochen Gehle die Inszenierung des Stücks ein starkes Anliegen. „Es ist wahnsinnig wichtig, das zu erzählen“, findet er und scheut sich nicht, die digitale Revolution in den Auswirkungen auf den Menschen mit der industriellen Revolution gleichzusetzen. „Wir fliegen zurzeit in so vielen Bereichen einfach blind“, sagt Gehle und plädiert für eine längst überfällige Erneuerung der Lehrpläne: „Medienkompetenz ab der 1. Klasse“, das sei längst dringend geboten.