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Vor 30 Jahren Die Flucht durch glühendes Eisen

Am 13. Oktober 1988 geschah im Tangerhütter Eisenwerk ein schrecklicher Arbeitsunfall. Ein junger Mann verstarb Monate später.

Von Rudi-Michael Wienecke 13.10.2018, 02:00

Tangerhütte l Heidemarie Baumgart möchte das Jahr 1988 am liebsten aus ihrem Leben verdrängen. „Meine Mutter litt unter Parkinson, mein Onkel im Westen war todkrank und unser Sohn hatte einen Verkehrsunfall. Ich hatte den Kopf richtig voll“, erinnert sich die damals 46-jährige Lehrerin an der Polytechnischen Oberschule in Grieben. Der schlimmste Tag in diesem Jahr war für sie aber der 13. Oktober, ein Donnerstag.

„Ich unterrichtete in der zweiten Stunde Deutsch in der neunten Klasse. Dann kam die Schulsekretärin herein und rief mich an das Telefon“, erinnert Sie sich, als wäre es gestern gewesen. Allerdings wartete kein Telefonat im Sekretariat auf sie, sondern es waren zwei Leitungskader des VEB Eisenwerk „1. Mai“ Tangerhütte mit der Nachricht: „Wir müssen ihnen mitteilen, ihr Mann hatte einen Unfall.“ Ihre spontane Antwort: „Hugo hatte sich doch schon öfter verbrannt.“

Die damals 27-jähige Brunhild Andres arbeitete als Planungsleiterin für die Materialwirtschaft im Eisenwerk, an diesem Tag keine 100 Meter entfernt von ihrem Ehemann, den sie zwei Jahre zuvor heiratete, mit dem sie eine dreijährige Tochter hat. Sie wurde von ihrem Bereichsleiter ins Büro gerufen und dieser erzählte „etwas von einem Unfall, in den Uwe verwickelt gewesen sei, Es klang damals eher lapidar“, so ihr Eindruck 30 Jahre später.

Beide Frauen gingen also davon aus, dass ihren Männern nichts Schlimmes passiert sei. „Leichtgläubig wie ich war, nahm ich später das übliche, eben Bademantel, Schlappen und Schlafanzug für ihn mit in das Krankenhaus. Auf keinen Fall dachte ich an Lebensgefahr“, so Heidemarie Baumgart.

Auch Brunhild Andres ging erst einmal weiter im Büro ihrer Arbeit nach. „Dann bekam ich ein ungutes Gefühl.“ Die junge Frau machte sich auf den Weg zur Gießerei. Ihrer angesichts raunten die dort noch fassungslos versammelten Männer. „Ich kam mir vor wie ein Fremdkörper, obwohl wir uns alle kannten. Sie sahen mich an als dachten sie: Warum kommt die? Warum muss sie sich das auch noch angucken?“ Dann wurde ihr bewusst: hier ist Schlimmes passiert. Sie sah Reste von Arbeitsschuhen, teilweise noch mit Strümpfen, die in erkaltender Eisenschmelze steckten.

„Wenn da was passiert, kannst Du mich vergessen“, warnte der damals 50-jährige Hugo Baumgart schon lange vor dem Unfall seine Frau. Immer wieder hakte eine Gießpfanne, die an einer Krankette hing. Auch seinen Meister hatte Baumgart schon mehrfach auf die Gefahr hingewiesen.

An diesem 13. Oktober 1988, wenige Minuten nach 8 Uhr, passierte schließlich das Unglück. Die Pfanne hakte, gleichzeitig platzte eine Schweißnaht, außerdem fehlte ein Schutzring. Vier bis fünf Tonnen glühendes Eisen, etwa 1200 Grad heiß, schwappten über, spritzten und bahnten sich ihren Weg durch die Halle. Die vier Männer, die an Pfanne und Gussform arbeiteten, versuchten sich zu retten. Allerdings war der Fluchtweg mit Formkästen verstellt, so dass sie sich nur hintereinander den Weg aus der Gefahrenzone bahnen konnten. Entsprechend war auch die Schwere ihrer Verletzungen.

Der erste kam mit dem Schrecken davon. Der zweite verbrannte sich schwer an Fuß und Hand. Hugo Baumgart war der dritte. Er musste teilweise durch das flüssige Eisen hindurch, es lief bereits in seine Schuhe. Heute versichert der mittlerweile 80-Jährige: „Unmittelbar bei dem Unfall hatte ich keine Schmerzen verspürt.“ Die berüchtigte Schmerzgrenze war überschritten. Den 28-jährigen Uwe Andres, ein sportlicher Feuerwehrmann, erwischte es als Letzten am Schlimmsten. Er sollte den Unfall später nicht überleben.

Der heute 80-jährige Manfred Borstel, damals Arbeitsvorbereiter, musste das Drama aus wenigen Metern Entfernung verfolgen. „Hugo brannte lichterloh und hatte geschrien. Sofort habe ich ihn mit einem Wasserschlauch abgespritzt. Die Pfanne mit dem glühenden Eisen stürzte auf den trockenen Sand. Sofort waren wir in eine Staubwolke gehüllt und konnten nichts mehr sehen, nicht mehr helfen.“ Borstel glaubt sich noch erinnern zu können, dass Uwe Andres gestürzt sei.

Zum Verhängnis wurde den Männern auch ihre Arbeitskleidung. Schutzbekleidung, wie heute üblich, gab es nicht. „Es waren einfache Arbeitsschuhe und einfache blaue Anzüge, wie sie die Chinesen bei der Reisernte tragen“, weiß Erika Borstel, die oft genug die Sachen ihres Mannes flicken musste. Von glühenden Spritzern wurden die Arbeiter in der Gießerei nämlich regelmäßig getroffen. Kleinere Brandwunden am Körper gehörten zu ihrem Tagesgeschäft.

Auf einem Elektrokarren wurden die Opfer für die Erstversorgung zur Betriebsärztin gefahren. Von dort aus ging es mit der Schnellen Medizinischen Hilfe zum Krankenhaus nach Tangermünde. Dort schien man mit der schwere der Verletzungen überfordert gewesen zu sein. Uwe Andres wurde in die Magdeburger Uni-Klinik verlegt, Hugo Baumgart in das Stendaler Krankenhaus.

Erst bei ihrem Besuch dort wurde Heidemarie Baumgart klar, dass ihr Mann in akuter Lebensgefahr schwebt. 30 Prozent seiner Haut waren teilweise vierten Grades verbrannt. Die Strahlungshitze hinterließ ihre Spuren im Gesicht, auf dem Rücken, an Armen und Händen. Besonders schwer verbrannt waren die Beine, sein rechter Unterschenkel konnte nicht gerettet, er musste später amputiert werden. Zwei Monate lang lag Hugo Baumgart auf der Intesivstation, jeden Tag davon musste seine Frau mit der Todesnachricht rechnen. Anschließend musste er weitere fünf Monate im Krankenhaus verbringen.

Brundhild Andres fuhr noch am Unfalltag mit dem Sicherheitsinspektor des Eisenwerkes zum Krankenhaus nach Magdeburg. „Erst nach mehrfachem Betteln durfte ich ihn sehen.“ Ihr bot sich ein noch schreckliches Bild, die Beine ihres Mannes waren, teilweise bis auf den Knochen, verbrannt. Uwe Andres war aber im Gegensatz zu Hugo Baumgart, der in ein Koma versetzt wurde, noch ansprechbar. „Ich konnte da nicht durch, die Formkästen standen im Weg“, sagte er seiner Frau.

50 zu 50 – So hatte der Arzt die Überlebenschancen des jungen Familienvaters eingeschätzt. „Jeder Tag zählt“, machte der Mediziner der jungen Ehefrau ein wenig Hoffnung. Brundhild Andres zählte sie. Nach 117 Tagen hatte ihr Mann seinen schmerzhaften Kampf verloren.